27. Feb. 2015Sexsucht

Sexsucht geht oft mit Beziehungsproblemen und Selbsthass einher

Nicht paraphiles hypersexuelles Verhalten – 90 % der Betroffenen sprechen von Sexsucht – wird heute zu den Verhaltenssüchten gezählt. Es ist typischerweise exzessiv, selbst- oder fremdschädigend, die Fantasien und Verhaltensweisen richten sich zumeist auf sog. „normale“ und nicht auf paraphile sexuelle Reize, wobei es Schnittmengen geben kann, erklärte Professor Dr. Dipl.-Psych. Uwe Hartmann von der Medizinischen Hochschule Hannover.

Hauptsymptome der Sexsucht sind:

  • zwanghaftes Masturbieren
  • ein generell starkes autoerotisches Verhalten
  • erhöhte Promiskuität, sowohl mit Prostituierten als auch mit „normalen“ Partnerinnnen
  • Pornografie-Missbrauch bei 70 % der Sexsüchtigen

Bei den Menschen mit exzessivem Pornografiekonsum unterscheidet man Jäger, Sammler und Menschen, die beides sind, erläuterte Prof. Hartmann. Die Jäger durchforsten zum Teil mehrfach täglich das Internet nach Neuem, suchen in den oft stundenlangen „Sessions“ den ultimativen Kick, der ihr inneres Drehbuch zu 100 % erfüllt. Die Sammler legen oft riesige Vorräte an Pornografie an.

Frauen häufiger betroffen als erwartet

Von Sexsucht betroffen sind überwiegend Männer, sexsüchtige Frauen gelten im klinischen Kontext als Rarität. In langjähriger Praxis sind dem Kollegen gerade mal zwei begegnet. In internetbasierten Studien liegt die Frauenquote dagegen bei etwa 20 %. Bei den weiblichen Betroffenen geht es allerdings viel weniger um Pornografie als um Kontakte in Chatrooms, Flirtverhalten und Anbahnung realer Kontakte.

Eine der häufigsten negativen Folgen des dysregulierten Sexualverhaltens ist die Schwierigkeit, eine stabile Paarbeziehung einzugehen oder aufrechtzuerhalten. Nach Erfahrung von Prof. Hartmann suchen die meisten Sexsüchtigen Hilfe, weil es zu Problemen in der Partnerschaft gekommen ist. In der Regel hat die Partnerin auf dem Handy oder dem Computer Beweise für das „andere“ Sexualleben gefunden, sie fühlt sich hintergangen, verunsichert, die Vertrauensbasis ist zerstört.

HIV und andere Infektion drohen

Außerdem drohen den Betroffenen eine Spirale zunehmender Isolierung und immer unpersönlich werdender Sexualität, Infektionen mit HIV oder anderen sexuell übertragbaren Erregern, finanzielle und berufliche Probleme, z.B. wenn der Pornografiekonsum auch am Arbeitsplatz nicht kontrolliert werden kann.

Wie häufig Sexsucht in der Bevölkerung vorkommt, ist unklar. Ältere Schätzungen gehen von einer Prävalenz bis zu 6 % aus, in einer neuseeländischen Studie gaben 14 % der Männer und 7 % der Frauen an, sie hätten sexuelle Fantasien oder Verhaltensweisen, die sie als „außer Kontrolle“ empfanden. Nur knapp 3 % fühlten sich aber dadurch in ihrem Leben beeinträchtigt.

In einer großen Internetstudie war es nicht möglich, die Menschen, die sich selbst als sexsüchtig bezeichneten, von den anderen aufgrund der tatsächlichen Sexfrequenz zu unterscheiden, berichtete Prof. Hartmann. Dies gelang nur, wenn man die Ansichten über die ideale Sexfrequenz analysierte. Aber kann man überhaupt festlegen, wie viel Sex zu viel Sex ist?

"total sexuell outlet" sinnvolles Diagnosekriterium?

Kinsey sprach davon, dass man hypersexuell sei, wenn man über Jahre einen „total sexuell outlet“, d.h. Geschlechtsverkehr und Masturbation, von > 7 pro Woche habe. Aber: „Wir alle erinnern uns hoffentlich noch an Zeiten, in denen das auch bei uns so war“, meinte Prof. Hartmann. Genauso schwierig wie die Frage nach der pathologischen Quantität des Sexes sei auch die Frage nach der Qualität zu beurteilen – wann kann man von zwanghafter Masturbation sprechen?

Ein „heißes“ Thema ist der Pornografiekonsum. Dank des Inter­nets war es noch nie so einfach, sich anonym sexuelle Reize der verschiedensten Art zuzuführen. Diese leichte Verfügbarkeit hatte zur Folge, dass sich die Pornografie zu einem supernormalen Stimulus entwickelte und eine neue Variante der Sexsucht entstand, die man als gelegenheitsinduziert bezeichnet, so Prof. Hartmann.

"Hypersexual Disorder" – Kriterien nach Kafka

A. Intensive(s) sexuelle Fantasien, Verlangen oder Verhalten über sechs Monate plus mindestens vier der folgenden fünf Kriterien:

A.1 Vernachlässigung von Verpflichtungen
A.2 als Reaktion auf negative Stimmungslage
A.3 als Reaktion auf belastende Ereignisse
A.4 erfolglose Anstrengungen, das Verhalten zu reduzieren
A.5 Eingehen von körperlichen bzw. psychologischen Risiken für sich selbst oder andere

B. signifikanter Leidensdruck oder eine Einschränkung in wichtigen Lebensbereichen

C. nicht direkte physiologische Folge einer Substanz

In den DSM-5 wurde die Hypersexuelle Störung nicht als Diagnose aufgenommen. Zum einen fürchtete man die Pathologisierung normalen Verhaltens, zum anderen wurde in Frage gestellt, dass es sich tatsächlich um ein abgegrenztes klinisches Syndrom handelt.
Außerdem sah man den Missbrauch der Diagnose im forensischen Bereich kommen, sexuelle Gewalttäter könnten sich mit der Krankheit rechtfertigen.

Pornographie als Auslöser?

Es gebe Hinweise, dass erhöhter Pornokonsum das Belohnungssystem herunterreguliere beziehungsweise „ausleiern“ könne. Die partnerschaftliche Sexualität gebe dann nicht mehr den ausreichenden Kick her. Nach heutigem Kenntnisstand führe leichter bis moderater Konsum aber nicht zu negativen Effekten.

Was macht man nun mit den Patienten? Für die Diagnostik hilfreich sind zunächst die vier Screeningfragen nach Kafka:

  1. Hatten Sie jemals wiederkehrende Schwierigkeiten, Ihr Sexualverhalten zu kontrollieren?
  2. Hatte Ihr Sexualverhalten negative Konsequenzen in Partnerschaft, Beruf, medizinisch?
  3. Haben Sie versucht, das Verhalten zu verheimlichen und/oder haben Sie Schamgefühle?
  4. Hatten Sie jemals das Gefühl, zu viel Zeit mit sexuellen Aktivitäten zu verbringen?

Empfehlenswert ist ein einfacher Fragebogen zur Selbstbeurteilung, das „Hypersexual Behavior Inventory (HBI 19)*. In der Therapie rückt Prof. Hartmann vor allem Bindungsprobleme und Intimitätsdefizite in den Fokus. Denn Sex sei oft ein Schutz vor Verlassenheitsängsten und Leeregefühl oder diene der Abwehr von Traumatisierungserinnerungen oder der Elimination von seelischem Schmerz und Spannung. Sex wird quasi wie ein Aspirin benutzt, als schnelles Mittel gegen schlechte Gefühle, formulierte es der Kollege.

Sexualität zur Emotions-Kontrolle

Kontrollierte Studien zur Therapie der Sexsucht gibt es bislang noch nicht. Die verschiedenen Ansätze unterscheiden sich von Zentrum zu Zentrum deutlich. Sie stützen sich aber zumeist auf Komponenten der Suchttherapie, der Behandlung von Paraphilie und Sexualstraftaten und andere psychotherapeutische Interventionen und Techniken.

Grundsätzlich wichtig ist es nach Überzeugung von Prof. Hartmann, den häufig vorhandenen Selbsthass der Patienten zu modifizieren und das zwanghafte Masturbieren zu regulieren. Da Sexsüchtige in der Regel nicht gerade gut im Bett sind, gilt es auch, sexuelle Dysfunktionen anzugehen. „Fragen Sie danach“, forderte der Kollege.

Therapie mit grundlegenden Techniken

Darüber hinaus sollten die Patienten Selbstfürsorge betreiben, sich um Ernährung, Sport, Erholung, Urlaub, Freunde etc. kümmern und eine positive Selbstzuwendung etablieren. Weitere therapeutische Strategien sind:

  • Aufgeben von Verleugnung, Bagatellisierung und anderen Abwehrstrategien
  • Restrukturierung der kognitiven Verzerrungen bzw. Mythen
  • Arbeit am inneren „Drehbuch“ des Patienten, den Lovemaps/sexuellen Skripts
  • Training von Intimität und Empathie
  • Rückfallvermeidung
  • Traumatische Erfahrungen identifizieren und bearbeiten
  • selten: vorübergehende Gabe von SSRI; in schweren Fällen Verordnung von Antiepileptika, Antiandrogenen oder LHRH-Analoga.

Jeder Psychiater oder Psychotherapeut hat alle Mittel an Bord, um dem Patienten zu helfen, betonte Prof. Hartmann. Sagen sie bloß nicht, „davon verstehe ich nichts, ich schicke Sie zu einem Spezialisten.“ Denn bis der Kranke tatsächlich den nächsten Anlauf nimmt, um einem Fachmann sein Herz auszuschütten, vergehen meistens Jahre.

Quelle: Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde 2014