1. März 2013Eine frühe Therapie hätte ihm das Leben wohl erleichtert

Nur jeder vierte Klinefelter wird erkannt

Das Untersuchungsergebnis hatte man nach der Diagnosestellung dem Vater des Jungen mitgeteilt  – dieser hatte es aber nicht verstanden und das Ganze verdrängt. Ohne die Ursache zu kennen, schlug sich der junge Mann über viele Jahre mit Energiemangel und Muskelschwäche herum. Nach seiner Heirat im Jahr 1968 hofften er und seine Frau über viele Jahre vergeblich auf ein Kind. Mit 40 wurde ein M. Crohn diagnostiziert und der Patient aufgrund einer Darmresektion mit Ileostoma frühberentet.

Wenn der Bartwuchs erst mit 60 Jahren startet

Als er 2005 aufgrund der Darmerkrankung wieder ins Krankenhaus musste, fiel in seiner Krankenakte ein zusammengefalteter Brief mit der Diagnose „Klinefelter-Syndrom“ auf, den offenbar nie jemand gelesen hatte. Nach Bestätigung der Störung wurde eine transdermale Testosterontherapie eingeleitet.

Mit inzwischen 60 Jahren verspürte der Patient jetzt erstmals, was der Testosteronmangel in seinem Leben angerichtet hatte. Er fühlte sich umgehend deutlich besser und aktiver und der bisher vermisste Bartwuchs setzte ein. Auch das Nichtwissen um seine Infertilität hatte sein Leben beeinträchtigt – wäre das vorher klar gewesen, hätten er und sein Frau sich wahrscheinlich beizeiten zu einer Adoption entschlossen.

Jeder 500. männliche Neugeborene hat ein Klinefelter-Syndrom

Ein trauriger Einzelfall? Leider nicht unbedingt, heißt es in einem Kommentar von Professor Dr. Nelly Pitteloud von der Endokrinologie am Centre Hospitalier Universitaire Vaudois in Lausanne. Man geht davon aus, dass nur ein Viertel aller Männer mit überzähligem X-Chromosom (47,XXY) diagnostiziert werden – obwohl das Klinefelter-Syndrom mit einer Rate von einem Fall auf 500 männliche Neugeborene die häufigste Störung der Geschlechtschromosomen ist.

Um früher auf die Diagnose zu kommen, sollte man frühzeitig auf Auffälligkeiten bei der Pubertätsentwicklung und Zeichen des Hypogonadismus achten. Von einer verzögerten Pubertät ist auszugehen, wenn das Wachstum der Hoden nach 2 bis 2,5 Standardabweichungen von der Norm (etwa 14 Jahre) immer noch nicht eingesetzt hat.

Häufig handelt es sich dann nur um eine konstitutionelle Entwicklungsverzögerung, die sich oft schon an der Familienanamnese erkennen lässt. Trotzdem sollte die Verzögerung zum Anlass genommen werden, einen hypergonatropen Hypogonadismus (wie beim Klinefelter-Syndrom), einen hypogonatropen Hypogonadismus (Kallmann-Syndrom) oder einen funktionellen hypogonatropen Hypogonadismus (z.B. sekundär bei schweren systemischen Erkrankungen) auszuschließen, rät die Endokrinologin.

Hodenvolumen und Testosteron bestimmen

Zur weiteren Diagnostik gehören die Analyse der Wachstumskurven, die Erfassung von Medikamenteneinnahme, Ernährungszustand und Tannerstadium, der Ausschluss von Gynäkomastie/Galaktorrhö und die Bestimmung des Hodenvolumens.

Weiterhin sind LH, FSH, Testosteron, Prolaktin und der „Insulin like Growth Factor“ zu bestimmen. Anzeichen von angeborenen Syndromen wie Zahnanomalien, Geruchsstörungen und kognitive Entwicklungsstörungen müssen ebenfalls erfasst werden.

Ein wichtiger klinischer Hinweis auf einen Hypogonadismus können „Eunuchen-Proportionen“ (Spannweite der Arme mindestens 7 cm größer als Körperhöhe; Verhältnis Ober- zu Unterkörper > 1) sein. Auch auf eine verzögerte Sprachentwicklung, Lernschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten sollte geachtet werden.

Durch die frühzeitige Einleitung einer Hormonersatztherapie im Jugendalter kann man den Patienten einiges ersparen, schreibt Prof. Pitteloud. Das Wachstum wird gefördert, sekundäre Geschlechtsmerkmale bilden sich aus und die Muskelmasse nimmt zu.

Psychosoziale und sexuelle Probleme können durch die Hormonersatztherapie zumindest abgemildert werden. Wichtig ist außerdem ein möglichst problemloser Übergang von der Betreuung durch den Pädiater zum Erwachsenen-Arzt. Zu oft fallen Patienten dabei durch den Rost, so die Expertin.

 

Quelle: 1. Mithun Bhartia et al., BMJ 2012; online first; 2. Nelly Pitteloud, a.a.O.