9. Feb. 2018

Alle Jahre wieder: Die Grippewelle

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BB

Es gibt so Dinge, die ich nicht verstehe. Zum Beispiel, wenn bei uns in Graz der erste Schnee fällt, starren alle ganz baff auf die kurzzeitig weiße und danach lange braungatschige Pracht und wundern sich. Bis die Stadt ihre Schneepflüge auspackt, dauert es Ewigkeiten, und kleine Nebenstraßen wie die, in der meine Mutter wohnt, sind erst im Frühling wieder abgetaut. Jeder wundert sich. Schnee im Winter! Wer hätte das gedacht! Aber was will man von Menschen, die Jahr für Jahr davon überrascht werden, dass Weihnachten auf den 24. Dezember fällt.

Trotzdem geht es mir immer noch nicht in den Schädel, dass die Leute jedes Jahr total erstaunt vom Ausbruch der Grippewelle sind. Auch wenn die Grippe alle Jahre wiederkommt, trifft sie uns immer wieder überraschend. Und Patienten, die sich jahrelanger Impfberatung selbstbewusst widersetzt hatten, jammern plötzlich, dass in den meisten Apotheken die Impfstoffe bereits vergriffen sind. Heuer habe ich noch eine andere Beobachtung gemacht. Nicht nur Schnee in Graz (der glücklicherweise eh selten vom Himmel fällt), Weihnachten und die Grippewelle sind überraschende Ereignisse in einem Winter. Auch die Tatsache, dass es einem nicht gut geht, wenn man die Grippe oder zumindest einen grippalen Infekt ausgefasst hat, lässt manch einen aus dem Staunen nicht mehr herauskommen.

N wie Notfälle

Letzten Samstag hatte ich wieder einmal Ärztenotdienst. Ich parkte mich also um sieben Uhr in der Früh mit Brille und Kugelschreiber bewaffnet vors Telefon und machte mich auf das Schlimmste gefasst. Und ich wurde nicht enttäuscht. Bis am Abend kam ich nicht dazu, mir einen Kaffee zu holen. Was gut war, denn für Pinkelpausen wäre eh keine Zeit geblieben. Ob man sich in solchen Diensten ein Lovenox reinjagen sollte? Ich überlege fürs nächste Mal. Na ja, jedenfalls hatte ich mindestens dreißig Anrufer pro Stunde. Was noch extra nervig war, war die Tatsache, dass praktisch niemand für sich selber anrief. Außer einem einzigen. Der hatte die Telefonnummer seines Sachwalters verloren. Und da ich ja die Notrufnummer bin, hätte ich ihm diese geben müssen. Der tat mir leid. Alle anderen ließen telefonieren, obwohl sie bei näherem Nachfragen weder sprachgestört, noch heiser, noch dement oder der deutschen Sprache nicht mächtig waren.

Ich mache ja ganz gerne Telefondienste. Normalerweise macht es mir Freude, die Leute geduldig zu beraten oder sie etwas aufzubauen. Diesmal hätte ich gerne um halb zehn am Vormittag schon eine Axt gehabt. Und irgendetwas, um damit darauf einzuhacken. Der Großteil der Leute glaubt offensichtlich, dass man nicht in unsere Ordination kommen kann, wenn man eine etwas erhöhte Körpertemperatur hat oder gar Fieber. Dann muss man stocksteif im Bett liegen und unbedingt nach einem Hausbesuch verlangen. Nach welchem man dann eh in die Apotheke geht, um die Medikamente zu holen und danach zu „Mc Donald’s“ oder zum Schnitzelwirt um die Ecke, schließlich will man ja auch essen. Nicht mit mir. Wer gehfähig ist und nicht im Altersheim sitzt, muss vorbeikommen. Hat mir nicht nur Freunde eingebracht. Besonders mag ich die, die bereits vom Hausarzt das komplette Therapieprogramm auf dem Nachtkästchen stehen haben, aber nach der dringenden Visite schreien.

„Was hat Ihnen Ihr Arzt denn schon verschrieben?“, will ich wissen. Dann kommt die ganze Liste, und ich lobe die Gründlichkeit und Umsicht des Hausarztes und frage, wo denn jetzt noch das Problem liegen würde. Als Antwort kommt dann: „Ja, aber nehmen will ich das nicht!“ Tonnenweise Ibuprofen, Paracetamol und Aspirin, literweise Nasentropfen und Ströme von Hustensaft fristen ein nutzloses Dasein in Nachtkasteln und Medikamentenschränken, nur um irgendwann weggeworfen zu werden. Ich versuche immer wieder tief durchzuatmen und freundlich zu bleiben. Man kann „Himmel, A… und Zwirn, Herr-schau-auf-d’-Seiten, jetzt kapiert’s es endlich!“ schließlich auch sehr ruhig und nett in korrekten Worten ausdrücken. Am Nachmittag ruft ein Zweiundzwanzigjähriger an mit den üblichen Symptomen: Fieber, Schüttelfrost, Kopfweh, Ganzkörperschmerz und Elend. Medikamente hat er schon vom Hausarzt. Ich erkläre ihm, dass er krank sei und dass es normal sei, sich dabei nicht gut zu fühlen. Kein Verständnis am anderen Ende des Telefons. Ich rede auf ihn ein, er solle sein Zeug nehmen und Geduld haben.

Nach einer Stunde meldet er sich wieder. Noch immer elend. Irgendwann lasse ich mich erweichen und setze ihn auf die Hausbesuchsliste. Schließlich ist so ein Männerschnupfen ja eine lebensbedrohliche Angelegenheit. Kurz darauf ruft sein Bruder an und dem erkläre ich auch, dass man sich als Kranker nicht gut fühlt. Worauf er mit mir zu schreien beginnt: „Das haben Sie zu verantworten!“ Damit kann ich leben. Als die Kollegin eine Stunde später zum Hausbesuch kommt, hatten die beiden schon die Rettung gerufen und ein mit Medikamenten bestens versorgter junger Mann gibt den sterbenden Schwan. Manchmal sollte man ihnen eine Privatrechnung geben können! Der letzte Kranke meines Arbeitstages klingt so arm, dass ich ihm einen Kollegen auf Hausbesuch verspreche. Als ich seine Daten aufnehmen will, beginnt er zu poltern: „Das muss ich Ihnen nicht sagen, mit Ihnen muss ich überhaupt nicht reden!“ „Wunderbar. Das erspart uns Arbeit. Auf Wiederhören!“

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune