13. Feb. 2019

Herr, wirf Hirn vom Himmel!

Mir brummt der Schädel, bei jeder Kopfdrehung rotiert das Zimmer, und der Tinnitus klopft, pfeift und zirpt abwechselnd. Nein, ich habe keinen Hangover, sondern ganz banal für diese Jahreszeit: eine ordentliche Sinusitis. So wie sich das halt im Februar gehört, wenn es kalt, windig und schiach ist und einen jeden Tag Dutzende Patienten anhusten oder anspucken. Ich bade schon im Desinfektionsalkohol, lüfte trotz Minusgraden die Bude regelmäßig, verweigere konsequent das Händeschütteln und versuche, einen gewissen Mindestabstand zu den besonders bösartig aussehenden Rotzigen zu halten. Ist aber nicht immer so einfach. Die Sitzanordnung in meinem Sprechzimmer ist ein „Gegenüber- Setting“. Ich halte nichts von ums Eck sitzen und mir die Wirbelsäule noch mehr verbiegen, als zwischen Patient und Computer unbedingt nötig ist. Außerdem sind 100 cm Tischplattenbreite in manchen Fällen ein wirklich dringend nötiger Burggraben.

A wie Augenhöhe

Positiv ausgedrückt: Meine Patienten sind mein Gegenüber auf Augenhöhe. Allerdings sind es immer die, die unter Mundgeruch Marke „Hauch des Todes“ leiden, oder die, die besonders grauslich vereiterte Mandeln oder besonders weit tropfende Nase haben, die sich weit vorgebeugt über den Tisch lehnen und dann tief und feucht ausatmen. Deshalb hat die Wand hinter mir schon eine tiefe Kerbe, weil ich verzweifelt versuche, mit meinem Schreibtischsessel noch ein paar Zentimeter weiter nach hinten zu flüchten. Aber irgendeiner meiner lieben Patienten hat mir seinen Grauskeim angehängt, und deshalb tue ich mir jetzt besonders leid beim Arbeiten.

Aber krankfeiern ist keine Option. Zu viele Patienten und zu viel Arbeit. Zur Türe herein kommt ein junger Mann. Vor zwei Tagen erkrankt. „Der Schnupfen ist aber immer noch da!“, meint er mit klagender Stimme. „Ich kriege nur mit Nasentropfen gut Luft. Soll ich die noch nehmen?“ Und wegen dieser Frage sitzt der in meinem Wartezimmer! Er ist Student an der Technischen Universität. Also ein zukünftiger Hoffnungs- und Verantwortungsträger in unserer Gesellschaft.

Männerschnupfen

In solchen Situationen juckt es mich dann immer zu sagen: „Nein, natürlich setzen Sie die Nasentropfen ab. Nehmen Sie stattdessen eine Flaschenbürste, Abflussreiniger oder Ihr Laserschwert!“ Aber ich habe zu viel Angst, dass einer mal diese Anordnungen befolgt. Stattdessen erkläre ich ihm noch einmal geduldig den Sinn von Nasentropfen und versuche ihn aufzumuntern, dass er sich keine Sorgen machen soll, „Schnupfen dauert halt nun mal seine Zeit.“ Allerdings kann ich’s mir nicht verkneifen, als er das Sprechzimmer verlässt: „Übrigens, ich weiß, Sie sind arm, denn Männerschnupfen dauert erfahrungsgemäß noch um einiges länger.“

Dauerbrenner Histamin

Im Wartezimmer sitzen gefühlte achtzig Leute (ich habe ein sehr kleines Wartezimmer, also kann das einfach nicht stimmen). Die nächste Patientin hat einen Einschubtermin, wissend, dass die Hölle los und die Hausärztin selber krank ist. „Also Frau Doktor, seit fünf Monaten kann ich überhaupt nichts mehr essen!“ Beim Blick auf das Wonnepröppchen mir gegenüber kann ich das jetzt sehr schwer glauben. „Haben Sie schon irgendwelche Zusammenhänge zu gewissen Nahrungsmitteln hergestellt, oder Stress, oder waren Sie auf Fernreisen?“ – „Ich hab sicher eine Histaminintoleranz!“, meint sie mit einem verzweifelten Jaulen in der Stimme. „Ja, da gebe ich Ihnen recht. Das ist die wahrscheinlichste Erklärung.“ (Ich frag mich, wann die nächste „In-Krankheit“ endlich die HIT ablöst.)

Ich will sie aber trotzdem gründlich durchchecken mit Blutabnahme, Stuhltests etc. Und ich brauche ein Ernährungsprotokoll. Wenn ich irgendwas testen soll, muss ich wissen, in welche Richtung. „Und außerdem machen wir das nicht jetzt an diesem Einschubtermin für brandakute Probleme, sondern wenn ich gut Zeit für Sie habe und wieder gesund bin.“ Sie ist beleidigt, immerhin ist sie ja jetzt hier. Da klingelt mein Telefon, und meine etwas ratlose Assistentin stellt mir die Apotheke durch. Wir haben eine Patientin mit einer seltenen Stoffwechselerkrankung, die Spezialnahrung benötigt. Heute präsentiert sie sich erstmals in dieser Apotheke mit meinem Rezept.

Die dort wissen aber nicht genau, wo und wie sie das Zeug bekommen können. Also fragen sie die Patientin, wo sie bisher jahrelang das Präparat bezogen hat, um sich mit der anderen Apo in Verbindung zu setzen. Die Patientin (um die dreißig, wahl- und erziehungsberechtigt, Magistra der Pädagogik) antwortet darauf nur: „Ich war immer in einer Apotheke hier in der Gegend, ich weiß nicht genau, wo.“ Schon meine Assistentin konnte der Apothekerin nicht weiterhelfen, da wir außer bei speziellen Fragestellungen nicht verfolgen, wo unsere Rezepte eingelöst werden. Ich habe auch keine Ahnung und kann nur vorschlagen: „Fragen Sie die Patientin doch mal, ob sie weiß, wie die Apo ausgesehen hat, oder sich an die Straße erinnern kann.“ Jaul!

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune