Was genau ist eine S2k-Leitlinie?

Leider gibt es nicht zu jedem medizinischen Thema Leitlinien der höchsten Qualitätsklasse. Was genau ist eigentlich eine S2k-Leitlinie? Und wie kann man möglichst einfach abschätzen, ob eine noch unbekannte zu einem exotischen Thema vertrauenswürdig ist? (Medical Tribune 14/18)

Jährlich werden weltweit mehr als zwei Millionen medizinische Artikel in über 10.000 Fachzeitschriften veröffentlicht. Angesichts dieser Publikationsflut ist es selbst in einem begrenzten Fachgebiet nicht möglich, einen vollständigen Überblick zu bewahren. Um eine einigermaßen kompakte Zusammenfassung über den Stand des medizinischen Wissens zu erhalten, lohnt sich der Blick in die aktuellen Leitlinien. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) versteht unter diesem Begriff „systematisch entwickelte, wissenschaftlich begründete und praxisorientierte Entscheidungshilfen für die angemessene ärztliche Vorgehensweise bei speziellen gesundheitlichen Problemen“.

GOBSAT-Methode oder 5R-Methode?

Vorweg eine ganz wichtige Unterscheidung: Im Gegensatz zu Richtlinien sind Leitlinien nicht bindend! Sie stellen nur eine Orientierungshilfe dar und legen Handlungs- und Entscheidungskorridore fest, von denen in begründeten Fällen auch abgewichen werden kann, soll oder muss. Leitlinien genügen auch nicht automatisch den höchsten Qualitätsansprüchen. Das hat unter anderem damit zu tun, dass es keine festgelegten Vorgaben gibt, wer genau Leitlinien erstellen darf. „Das können Einzelpersonen sein, die sich als Experten in bestimmten Bereichen sehen, aber auch Fachgesellschaften, Universitäten oder eigene Leitlinienentwicklergruppen“, erklärt Mag. Thomas Semlitsch, Institut für Allgemeinmedizin und evidenzbasierte Versorgungsforschung, Medizinische Universität Graz. Auch die Methoden der Leitlinienentwicklung sind nicht reglementiert. Die Ansätze reichen von der ursprünglichen GOBSAT-Methode (Good Old Boys Sitting Around the Table) bis zur 5R-Methode, nach deren Grundsätzen eine evidenzbasierte Leitlinie relevant, rational erstellt, readable (leicht zu verstehen), remembered (kurz und einprägsam) und reliable (vertrauenswürdig) sein sollte.

Einstufung nach dem GRADE-System

„Im Idealfall besteht eine evidenzbasierte Strategie der Leitlinienentwicklung aus einer systematischen Recherche, der Auswahl und methodischen Bewertung der aktuellen Literatur oder bereits vorhandenen Leitlinien sowie einer strukturierten Konsensfindung“, so Semlitsch. Die Evidenzeinschätzung der Datenlage erfolgt bei vielen Leitlinien heute nach dem GRADE-System. In Deutschland hat die AWMF ein Regelwerk festgelegt, mit dem sichergestellt werden soll, dass alle durch die Arbeitsgemeinschaft veröffentlichten Leitlinien möglichst hochwertig sind. Dazu gehört auch die Klassifizierung in einem Stufenschema von S1 bis S3. Die meisten Leitlinien der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften im deutschsprachigen Raum entsprechen derzeit der Stufe S1.

AWMF-Stufenschema von Leitlinien

S1: Konsensus von Experten in einem informellen Verfahren

S2k: Konsensbasiert (strukturierte Konsensfindung in einem repräsentativen Gremium)

S2e: Evidenzbasiert (systematische Literaturrecherche und -bewertung)

S3: Evidenz- und konsensbasiert (systematische Literaturrecherche und -bewertung plus strukturierte Konsensfindung in einem repräsentativen Gremium)

In den evidenzbasierten S2e- und S3-Leitlinien enthalten die einzelnen Empfehlungen auch Angaben zur Evidenzstärke (Klasse I–V) und zum Empfehlungsgrad (Grad A–C). Diese müssen nicht zwangsläufig korrelieren: Ob eine Maßnahme letztendlich empfohlen wird, hängt nicht nur von der Evidenz, sondern auch von Parametern wie den vorhandenen Ressourcen, der Anwendbarkeit, dem Bedarf oder der Kosteneffektivität ab.

Behutsame Recherche im Datenbank-Dschungel

Wer auf der Suche nach Leitlinien zu einem bestimmten Thema im eigenen Haus, in vergleichbaren Einrichtungen oder bei Fachgesellschaften nicht fündig wird, kann bei Leitlinienanbietern, in Datenbanken oder in bibliographischen Quellen (PubMed, Medline) recherchieren. Leitlinienanbieter sind Gesellschaften, die selbst methodisch hochwertige Leitlinien erstellen. Bekannte Beispiele dafür sind NICE (England) und SIGN (Schottland), die ein sehr breites Themenspektrum abdecken. Der Vorteil ist, dass sie selbst auf Basis hochwertiger Regelwerke arbeiten und dadurch eine hohe Qualität gewährleisten können. Im Unterschied dazu werden in Datenbanken Leitlinien unabhängig von ihrer Qualität gesammelt. Die wichtigste Datenbank im deutschsprachigen Raum mit einem eigenen Klassifizierungsschema ist die des AWMF. In Amerika ist es das NGC (National Guideline Clearinghouse), jedoch ohne Klassifizierungsschema, aber es enthält neben amerikanischen auch eine Auswahl internationaler Leitlinien.

Die weltweit größte internationale Datenbank ist die G-I-N (Guidelines International Network). „Der Nachteil bei G-I-N ist, dass man dort zwar schnell fündig wird, aber der direkte Zugang jedoch kostenpflichtig ist“, berichtet Semlitsch. Kostenfreie Volltexte müssen also noch mühsam über Umwege durch Google gesucht werden. In bibliographischen Datenbanken findet sich ebenfalls eine große Anzahl internationaler Leitlinien. Deren Auswahl ist jedoch auf Guidelines beschränkt, die auch in wissenschaftlichen Journalen veröffentlicht wurden. Sämtliche, die nicht von Fachgesellschaften in Fachzeitschriften publiziert, sondern nur ins Internet gestellt wurden, sind dort nicht zu finden.

Kritische Betrachtung lohnt sich

Da die methodische Qualität zum Teil äußerst unterschiedlich ist, stellt sich die Frage, ob eine gefundene Leitlinie auch tatsächlich verlässlich ist. „Rein optisch sind sie nicht unterscheidbar“, betont Semlitsch. „Oft sind gerade schlechte Leitlinien gut designed und ansprechend.“ Aus diesem Grund wurden im Laufe der Jahre unterschiedliche Verfahren zur Bewertung entwickelt. Am bekanntesten sind die international validierten Instrumente AGREE II und DELBI (Deutsches Leitlinien-Bewertungsinstrument). Beide sind jedoch sehr komplex: AGREE II enthält 23 Items, die jeweils auf einer siebenteiligen Skala beurteilt werden müssen. Dabei soll alles durchleuchtet werden: Vom Geltungsbereich der Leitlinie, der Beteiligung von Interessensgruppen, bis hin zur Anwendbarkeit und der redaktionellen Unabhängigkeit. „AGREE II und DELBI sind wichtige Instrumente für wissenschaftliche Arbeiten.

Mit einem Aufwand von zwei bis drei Stunden pro Leitlinie sind sie aber für die Anwendung im praktischen Alltag kaum geeignet“, erläutert der Experte, weshalb mittlerweile auch mehrere Kurzbewertungsinstrumente entwickelt wurden. Diese sollen AGREE II und DELBI nicht ersetzen, sondern lediglich ergänzen. 2014 wurde von Grazer Wissenschaftlern die Mini-Checkliste MiChe vorgestellt, die eine wesentlich raschere Einschätzung der methodischen Leitlinienqualität ermöglicht. Für das seit zwei Jahren validierte Bewertungsinstrument wurden acht unabhängige Items identifiziert, für welche ein bis drei Punkte vergeben werden können. Semlitsch: „Der Fokus ist auf wenige sehr wichtige Schlüsselfragen gelegt, daher eignet sich MiChe als Bewertungsinstrument hervorragend für klinisch tätige Ärzte im beruflichen Alltag.“

EbM-Kongress 2018, 19. Jahrestagung des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin; Graz 2018

 

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune