16. Feb. 2018

Wertvolles in die Welt setzen

GESELLSCHAFT – Mitten im Wohlstand empfinden heute viele Menschen Gleichgültigkeit, Langeweile und Sinnlosigkeit. Prof. Alexander Batthyány zeigt im MT-Gespräch Wege hin zu einer engagierten Lebensführung auf. (Medical Tribune 06/18)

Batthyány: „Ein gewisser Zeitgeist will uns zum Egoismus verleiten.“
Batthyány: „Ein gewisser Zeitgeist will uns zum Egoismus verleiten.“

Medical Tribune: Welche Tipps kann man Patienten mitgeben, die einem hoffnungslos oder resigniert erscheinen?

Alexander Batthyány: Nicht im Ankämpfen gegen die innere Leere, sondern im Wiederentdecken der Fülle der Welt, lässt sich Gleichgültigkeit überwinden: an Erlebnissen, aber auch an Dingen, für die man Verantwortung trägt. Manchmal hilft es, mit dem Patienten Erinnerungen wieder aufleben zu lassen, in denen er noch nicht so resigniert war: Kann er das damalige Interesse vielleicht wieder in die Gegenwart bringen? Gab es Dinge oder Themen, die ihn oder sie angesprochen haben, vielleicht sogar faszinierten? Oder: Was bewundert oder beneidet er an Menschen, deren Leben er für sinnvoll hält? Was davon spricht ihn oder sie an? Es geht darum, zu finden, was einem vielleicht irgendwie zugedacht ist. Mit anderen Worten: Was nicht gewesen wäre ohne mich, das zeugt von mir. Und was nicht wurde, obwohl es sollte, zeugt von meiner existenziellen Abwesenheit, meiner Gleichgültigkeit.

Sie sprechen in Ihrem neuen Buch „Die Überwindung der Gleichgültigkeit“ von der Pathologie des Zeitgeistes: Woran hapert es bei der Lebenshaltung der Menschen in unserer heutigen Wohlstandsgesellschaft oft?

Wir haben wohl so viel Freiheit und so viele Möglichkeiten wie kaum eine Generation vor uns. Das kann leicht zu Bequemlichkeit und einem egozentrischen Rückzug auf die eigene Befindlichkeit verführen. Das tut der Welt nicht gut und – paradoxerweise – uns selbst am allerwenigsten. Man nimmt das eigene Wohlbefinden als selbstverständlich hin und erblindet zugleich für die Nöte anderer. Oder einfach auch dafür, dass es ja bei alledem nicht nur darum gehen kann, dass es nur uns gut geht. Die Frage ist ebenso: Wozu sind wir da? Ein gewisser Egoismus unserer Zeit stellt diese Frage allerdings weniger. Menschliches Glück bedeutet auch, einmal Einsatz oder Opfer für andere – oder etwas anderes – einzubringen. Unser Dasein verflacht, wenn es nur darum geht, was wir angenehm finden. Im Übrigen macht eine solche Haltung auch extrem frustrationsintolerant und krisenanfällig.

Gleichzeitig heißt es ja immer, dass die Österreicher z.B. um die Weihnachtszeit – Stichwort: „Licht ins Dunkel“ – schon sehr spendenfreudig seien? Ist das nicht ein Widerspruch?

Kein Widerspruch, sondern ein Zeichen dafür, dass wir im Prinzip viel besser und wohlwollender am Leben teilhaben können, als wir es uns oder dem Menschen im Allgemeinen manchmal selbst zugestehen wollen. Es spricht viel dafür, dass sich kaum jemand bewusst zum Egoismus entscheidet. Eher will ein gewisser Zeitgeist uns dazu verleiten. Nicht zuletzt suggeriert uns ja die Werbung und Konsumwelt, dass wir alleine oder primär auf unsere Bedürfnisse achten sollen. „Licht ins Dunkel“ zeigt hingegen: Wenn man den Menschen mit der Chance konfrontiert, sein Wohlwollen zu entfalten, dann tut er es. Und allem Anschein nach sogar gerne und bereitwillig. All das bestätigt ein bisschen darin, die Überwindung der Gleichgültigkeit noch ein wenig stärker in den Mittelpunkt zu stellen. Hier gibt es auch eine gesellschaftliche Verantwortung.

Ist es oft nicht einfach auch der Stress, der eine sinnorientierte Teilhabe am Leben erschwert? Wer mehrfach belastet durch Familie und Beruf ist, dem fällt es schwer, sich zusätzlich zu engagieren.

Sinnvoll ist immer genau das, was gerade dran ist. Es geht nicht darum, neben dem Alltagsgeschäft auch noch Sinn zu erfüllen, sondern: mitten im Alltag. Leben findet im Alltag statt, und dort finden sich auch die Sinnmöglichkeiten des Alltags. Im Kleinen, im scheinbar Kleinen, sollte man eigentlich sagen. Indem man vielleicht Blumen ins Wartezimmer stellt oder sich beim Patienten – wenn auch nur kurz – nach Lebensbereichen erkundigt, die nicht unmittelbar mit dem Arztbesuch zu tun haben. Oder indem man sich privat vielleicht ein paar Minuten länger mit den Interessen der Kinder befasst, statt gleich vor dem Fernseher zu „entspannen“ – was ohnehin meist weniger anregend ist, als die lebendige Zeit in und mit der Familie. Es gibt da so viele Möglichkeiten, wie es Situationen gibt: Daher gehen einem Sinnmöglichkeiten eigentlich nie aus.

Auch einem Burnout-Syndrom lässt sich am besten vorbeugen, wenn man wert- und nicht selbstorientiert arbeitet, schreiben Sie in Ihrem Buch.

Das bestätigen zahlreiche Studien gerade in Bezug auf den Medizineralltag. Es zeigt sich immer wieder: Entscheidend ist weniger das Wieviel an Arbeit als das Wofür. Menschen, die primär nach unmittelbarem Gewinn für sich streben, etwa nach der Anerkennung oder auch Geld, sind gefährdet: Der Reiz des Gewinns verliert sich irgendwann, oder aber: Die Anerkennung bleibt aus, und dann sind sie in der Tretmühle ihrer Arbeit – Opfer ihres eigenen Erfolgs, aber ohne Erfolgserlebnis und zugleich abhängig davon. Diese Menschen erleben ihre Arbeit, ihren Alltag und bald auch sich selbst als Last. Das Wozu schwindet oder verliert an Zugkraft. Jemand andererseits, der nicht so sehr nach Erfolgserlebnissen schielt – „Geht es mir gut?“ –, sondern in seiner Berufung aufgeht – „Wozu bin ich gut?“ – verfügt über andere Reserven. Irgendwie strömen einem die Kräfte, die man im Dienst am anderen braucht, zu. Das sagen uns die Daten. Über die Gründe selbst kann man spekulieren. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass wir mehr Selbstbestimmung erleben, wenn wir uns nicht von der Rückmeldung anderer abhängig machen. Vielleicht aber wirken hier auch existenzielle und psychologische Zusammenhänge, die wir erst nach und nach zu verstehen beginnen. Der Befund selbst jedenfalls wiederholt sich über viele Studien hinweg.

Im Buch diskutieren Sie auch populäre Selbsthilfeprogramme zur Steigerung von Selbstwertgefühlen. Warum?

Unsere Arbeiten in Wien haben gezeigt, dass solches „Positives Denken“ nicht wirklich wirkt. Der Grund liegt auf der Hand: Ein echtes und stabiles Selbstwertgefühl ist nicht etwas, das man sich einfach so einreden kann. Es ist ein begründetes Gefühl. Ich bin stolz über mich, weil ich etwas getan habe, dem ich zustimmen kann. Das bloße Suggerieren: „Ich bin gut, ich bin wertvoll“ usw. zäumt das Pferd also von hinten auf. Wer wirklich von sich wissen will, ob er gut oder wertvoll ist, kann in derselben Zeit auch einfach wirklich etwas Wertvolles in die Welt setzen oder für etwas oder jemanden gut sein. Anstatt es sich bloß einzureden. Das ist weitaus wirksamer und vor allem: realer.

Zur Person
Univ.-Prof. Dr. Alexander Batthyány ist Direktor des Viktor-Frankl-Instituts in Wien (www.viktorfrankl.org) und unterrichtet Grundlagen der Cognitive Science an der Uni Wien sowie Logotherapie und Existenzanalyse an der Uniklinik für Psychiatrie. In Liechtenstein ist er Inhaber des ersten Viktor-Frankl-Lehrstuhls für Philosophie und Psychologie.

Buchtipp
Alexander Batthyány: Die Überwindung der Gleichgültigkeit.
Sinnfindung in einer Zeit des Wandels.
Kösel Verlag 2017, ISBN 978-3-466-37197-6, 207 Seiten, 20,60 €

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune