25. Sep. 2018

Da fängt der Tag so richtig gut an

In fast einem Vierteljahrhundert ärztlicher Tätigkeit habe ich schon viel erlebt und viel gehört und auch viel einstecken müssen. Angefangen vom Klassiker, dass frau als Turnusärztin immer wieder gebeten wurde, die Leibschüssel zu bringen. Etwas, das meines Wissens nach von keinem meiner männlichen Kollegen jemals verlangt worden war. Mein Highlight jedoch aus Krankenhaustagen war die Ansage einer Lehrerin, die am Sonntag in der Nacht mit einem Wimmerl am Hintern in der Chirurgieambulanz erschienen war. Ich – seit über 40 Stunden im Dienst dahinvegetierendes und schon gespenstähnliches Wesen – fragte, warum in aller Welt das nicht Zeit bis morgen hätte.

Darauf kam folgender Ansager: „Tuan’s net deppert, kein Mensch arbeitet so viele Stunden! Und bei dem, was Sie verdienen, können’s ruhig in der Nacht einmal aufstehen.“ Ich erinnere mich noch daran, als wäre es nicht vor zwei Jahrzehnten, sondern gestern erst gewesen. Auch das Gefühl der ohnmächtigen Wut, das mein ausgelaugtes Hirn dabei empfunden hat, steigt schon wieder auf. Inzwischen habe ich wie gesagt viel erlebt. Ich hatte einen Patienten, der sich tatsächlich eine Liste meiner Verfehlungen zusammengeschrieben hatte und darauf bestand, mir selbige in extenso herunterzubeten. Drei Stunden nach Ordinationsschluss, wo ich vor lauter Hypoglykämie und Dehydratation eh schon knapp am Umkippen war. Aber auch das habe ich überlebt. Und er übrigens auch.

M wie Männersache

Auch hatte ich einen Patienten, der sich für so speziell hielt, dass er sich an keine Übereinkünfte halten konnte. Als ich ihm die freie Arztwahl nahegelegt habe, hat er sich bei meinem Mann über mich beschwert und gemeint, der sollte zuschauen, dass ich mich wieder einkriege. Auch das habe ich überlebt. (Und er auch). Einmal wollte mich einer verprügeln, weil seine Frau keinen Endloskrankenstand von mir bekommen hatte. Der Typ war gebaut wie ein Kleiderschrank. Auch das habe ich glücklicherweise überlebt. (Bei ihm bestand daran kein Zweifel). Und das sind nur die allerbesten, die mir jetzt so auf die Schnelle einfallen. Ich bin den ersten Tag vom Urlaub zurück, das Hirn noch nicht ganz, aber körperlich bereits kurz nach 7:00 Uhr anwesend. Außerdem haben wir noch die Vertretung vom Nachbardoktor, also ist nicht abzusehen, was heute alles so auf mich zukommen wird.

Aber wir sind ausgeschlafen und energiegeladen und haben vorsichtshalber im Kalender ein paar Löcher zusätzlich gelassen, die wir jederzeit mit Akutpatienten füllen können. Die allererste Patientin ist eine Vertretungspatientin. Ich hatte sie vorher noch nie gesehen, lächle sie freundlich an, als sie mein Sprechzimmer betritt, und frage nach, was sie herführt. Also: Sie hat seit vielen Wochen einen Schmerz hinter dem Brustbein und leidet an einem Hüsteln. Ich frage ausführlich nach kardialen Risikoprofilen, Rauchverhalten, Allergieproblemen usw. Das Antworten scheint ihr schwerzufallen, zumindest auf meine Fragen. So richtig hört sie nicht zu, deshalb trifft die Antwort auch immer messerscharf an meiner Frage vorbei. Aber ich weiß jetzt, was Google dazu denkt. Während ich sie beobachte, wie sie mit eingerollten Schultern wie eine Schildkröte vor mir sitzt und ihr Leid klagt – wer drei Minuten ohne Luftholen durchreden kann, hat keine Dyspnoe! –, rattert im Schädel mein plötzlich hellwaches Hirn die differenzialdiagnostischen Ideen herunter.

Ich schlage vor, einmal mit einem Besuch beim Lungenfacharzt – Termin mache ich ihr selbstverständlich gleich aus – zu beginnen. Röntgen, Lungenfunktion und Akutblutbild. Auch wäre für mich ein guter Physiotherapeut angesagt, um ihre eingerollte Haltung ein bisschen aufzukriegen. Knochendichtemessung schon mal gemacht? Könnten ja auch schon Wirbeleinbrüche sein, die die Gute so zusammensintern lassen. Eine kardiologische Abklärung könnten wir danach noch ins Auge fassen, aber was ich zuerst gerne versuchen würde, ist eine Probetherapie mit einem Säureblocker. Denn dieser brennende Schmerz hinterm Brustbein und das Hüsteln könnten wirklich von einem Reflux sein. Und bevor jemand zum Gastroskop greift, kann man das einmal versuchen und schauen, was sich tut. Sie sieht mich mit einem seltsamen Blick an. „Ja, ein Schmerz hinter dem Brustbein kann vom Reflux kommen. Heißt im Englischen auch ‚heartburn‘ und kann wirklich wehtun.“

Und jeder, der schon einmal vom Reflux gequält worden ist, kann auch von einem gereizten Kehlkopf ein Liedchen hüsteln. Sie schaut immer noch und meint dann: „So ein Blödsinn!“ Und wie bereits gesagt: Ich hab schon viel erlebt, aber so etwas hat noch kein Patient zu mir gesagt. Aber entweder bin ich doch sehr gut erholt, oder es ist einfach noch zu früh, um sich aufzuregen. Ich erhebe mich von meinem Sessel, lächle sie freundlich an, öffne die Tür und sage: „Sehen Sie, so schnell ist unsere Konsultation nun zu Ende. Wenn Sie mich bitte in die Rezeption begleiten würden, meine Assistentin gibt Ihnen gerne die Zeitbestätigung für Ihre Firma. Und alles Weitere besprechen Sie bitte mit Ihrem Hausarzt, wenn er wieder von seinem Urlaub zurück ist.“ Der Arme! Ich hoffe nur, dass er dann genauso gut erholt ist wie ich. Aber immerhin ist er ja ein Mann, vielleicht ist das dann ja gar kein Blödsinn, wenn er ihr etwas vorschlägt.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune