26. Juni 2018

Datenschutzgrundverordnung

Vor nunmehr neun Jahren habe ich meine Praxis eingerichtet. Mit ausreichend Bürokästen, um ausreichend Stauraum zu haben. Aus der Wahlarztzeit war ich noch gewohnt, Papierbefunde zu horten. Da wir aber von Anfang an alles eingescannt haben, blieben die Kästen ziemlich leer. So eine blöde Fehlinvestition dachte ich, aber da sie nun einmal so nett in die Räume passten, durften sie bleiben. Und irgendwann waren sie dann auch recht praktisch, um von Patienten vergessene Regenschirme, Wollmützen, Handys, eine Diplomarbeit und sogar ein Manikürzeug zu beherbergen. Damit ist jetzt Schluss. Die Inhalte kommen, sofern noch immer nicht abgeholt, zur Caritas. Denn ich benötige meinen Stauraum wieder. Dank der neuen Datenschutzgrundverordnung bekomme ich kiloweise Papier, das ich unterschreiben muss, bzw. gebe kiloweise Papier zum Unterschreiben aus. Und irgendwo wollen ja all diese Mappen, fein säuberlich geordnet, auch gelagert werden.

Die wenigen Papierbefunde, die ich noch habe, z.B. von meinem Labor, und die darauf warten, an Patienten bei deren Besprechungstermin ausgegeben zu werden, kommen selbstverständlich in einen versperrbaren Kasten. Weil ja sonnenklar ist, dass, falls jemals in meine Ordination eingebrochen wird, das Hauptaugenmerk des Einbrechers dem Cholesterinspiegel von Frau Müller und der Harnsäure von Herrn Maier gilt. Ganz zu schweigen vom überaus interessanten BMI von Herrn Moser und den Hämorrhoiden von Frau Schmied. Das ist schließlich Wissen, dass kriminelle Elemente bewegt und inspiriert. Bis wir unsere Computer statt mit dem alten für uns alle memorierbaren Passwort (das trotzdem abwegig und nicht sofort für Fremde erratbar war) mit einem achtstelligen Unding bestehend aus Sonderzeichen, Zahlen, Groß- und Kleinbuchstaben geschützt haben, sind ein paar Wochen vergangen. Wir konnten uns einfach nicht einigen. Jeden Tag zu Ordinationsschluss gab es einen Vorschlag, den am nächsten Morgen alle wieder runterbeten können mussten. Und zwar ohne Schwindelzettel.

Jetzt haben wir so ein supersicheres Passwort, eines, das auch nach dem Wochenende uns noch allen in Erinnerung geblieben ist, und ich setzte meine Leute vorsichtshalber auf Tebofortan. Sicher ist sicher, nicht dass mal einer es doch vergisst. Was ich noch nicht habe, ist ein feuerfester Tresor für meine Datensicherung. Ich hatte das nämlich zu lange für einen Scherz gehalten. Da ich keine Preziosen mein Eigen nenne, die den Kauf eines Tresors gerechtfertigt hätten, besitzen wir so etwas nicht. Aber bald. Wir überlegen noch, welche Größe. Denn möglicherweise müssen wir ja bald nicht nur die Datensicherung, sondern auch das Cholesterin von Frau Müller und die Hämorrhoiden ihrer Nachbarin dort einsperren.

S wie Sicherheit

Ansonsten nimmt das Ordinationsleben beinahe seinen gewohnten Lauf. Wir klären weiterhin alle Patienten kurz über ELGA, die Möglichkeit seines situativen „Opting-out“ und das praktische, neue E-Rezept auf. Danach erläutern wir ihnen, dass wir ihre Daten verarbeiten und dass wir gedenken, sogar über sie mit anderen Ärzten zu kommunizieren. Wir werden Befunde erhalten, anfordern und sogar auch weitergeben. Und sie außerdem noch speichern! Denn irgendwie besteht darin ja die Grundlage unserer Arbeit, glaubten wir zumindest bis jetzt. Es sind durchaus sehr nette Gespräche, die sich da mit den Leuten ergeben.

Wenn wir uns dann von ihnen verabschieden, sind sie oft sehr konsterniert: „Eigentlich hatte ich ja Knieweh“ oder „Ich bin so verkühlt“ oder „Wissen Sie, ich halte es in meinem Job nicht aus“ etc., kommt dann von den Leuten mit leise fragendem Unterton. „Das ist natürlich schlimm für Sie, aber darum können wir uns heute nicht mehr kümmern, schließlich haben wir ja bereits über ELGA und den Datenschutz gesprochen.“ Und beides zusammen überschreitet bei Weitem den Rahmen der beim Kassenarzt üblichen Fünf-Minuten-Medizin. „Es tut uns leid, dass Sie krank sind, aber da können wir jetzt nichts machen.“ Meine erste Patientin heute ist eine Krankenschwester, die direkt vom Nachtdienst im Pflegeheim kommt. Sie ist völlig fertig. Aber nicht unbedingt vom Dienst, sondern vom neuen Datenschutz.

Zum Beispiel dürfen sie keine Notizen mehr machen, wenn sie durch die Stationen gehen und Blutdruck und Zucker messen. Sie müssen sich das merken! Und die Namen müssen auch von den Türschließern. Wie sollen die dementen Patienten jetzt jemals wieder in ihr Zimmer finden? Ich finde das spooky. Ich möchte bitte niemals in einem Krankenhaus oder in einer sonstigen Anstalt liegen und behandelt werden, wenn mein Wohlergehen von der Merkfähigkeit der dort Arbeitenden abhängt. Wer weiß, welche Werte die mir dann zuteilen, und erst, welche Medikamente und überhaupt statt wem, wenn auf meiner Tür kein Name steht. Hilfe, ich will hier raus. Oder so dement sein, dass ich gar nichts mehr mitbekomme. Dafür müssen Pflegekräfte seitenweise Dokumentationen schreiben. Über jeden Furz. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich will einmal in einem Heim sein, in dem meine Windeln auch rechtzeitig gewechselt werden, und nicht in einem, in dem der Pfleger stattdessen noch in der Dokumentation der Windeln im Stockwerk drunter feststeckt. Müssen in Zukunft vielleicht auch die Namen von unseren Wohnungstüren und Postkästen entfernt werden aus Gründen des Datenschutzes? Aber ich denke, das wäre das geringste Problem, da die meisten unserer Briefträger offenbar sowieso nicht lesen können.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune