19. Sep. 2017

Dr. Stelzl: Das grenzenlose Ich

Es gibt da die Geschichte darüber, wie es in der Hölle zugeht bzw. im Himmel. Die geht ungefähr so: „In der Hölle, da sitzen alle um einen großen Tisch, der sich biegt unter der Last der köstlichen Speisen, die im Überfluss vorhanden sind. Doch alle, die darum herumsitzen jammern und klagen und leiden furchtbaren Hunger. Denn jeder hat einen riesigen, langen Löffel in seiner Hand, mit dem er immer wieder versucht, sich etwas von den Köstlichkeiten in den Mund zu stopfen, jedoch vergebens. Im Himmel dagegen sieht es so aus: gleiches Bild, gleiche Tafel, gleiches wunderbares Essen. Auch die gleichen deppert langen Löffel. Nur dort füttert jeder sein Gegenüber, alle sind glücklich und alle werden satt.“ Was mir daran gefällt, ist das Plädoyer für kreative Lösungsvorschläge und den Blick über den eigenen Tellerrand. Meine persönliche Vorstellung vom Himmel sieht etwas anders aus. Essen klingt schon sehr verlockend, aber in meinem Himmel braucht es nicht gar so viele Menschen um mich herum, dafür einen Haufen Katzen.

Warum ich heute von sowas anfange? Ich möchte niemanden nerven mit irgendwelchen moralinsauren Kolumnen oder schon gar nicht irgendwelche Belehrungen absondern. Ich schreibe jetzt darüber, weil ich riesig genervt bin und genug habe von diesem ewigen Ich! Ich! Ich! Auf Facebook vermeide ich es, so gut es geht, Sinnsprüche und Pseudotiefsinniges zu lesen. An manchen Tagen geht das ganz gut, der eine oder andere Geistesschwachsinn zwischen zwei Urlaubsfotos oder Katzenvideos von Freunden ist verkraftbar. Manchmal sind auch Dinge dabei, die ich mir durchaus selber zur Behirnung nehme, z.B.: „Hör auf, für Menschen das Meer teilen zu wollen, die für dich nicht einmal einen Bach überqueren würden!“ Hat was und es ist absolut wichtig, auf sich selbst zu schauen und zwischendurch eine energetische „Einnahmen-Ausgabe-Rechnung“ durchzuführen.

Aber der Großteil der Postings hat nichts mehr mit gesunder Selbstachtung und sorgsamem Mit-sich-selbst-Umgehen zu tun. Im Zentrum steht das „Ich“ und auch in der Peripherie steht das „Ich“, eigentlich gibt es nur das „Ich“. Das „Ich“, das immer als erstes kommen muss, das „Ich“, das nicht zu kurz kommen darf, das „Ich“, dessen Bedürfnisse Tag und Nacht erkundet werden müssen und dann auch noch prompt erfüllt. Denn alles andere könnte das „Ich“ ja zu kurz kommen lassen. Und dann würde es gelangweilt oder unglücklich oder in seiner Entwicklung und Entfaltung gebremst. So manch einer scheint der Entfaltung seines Ichs seine ganze Zeit zu widmen. Wie die Leute dazwischen noch zum Arbeiten kommen, ganz zu schweigen von der Pflege irgendwelcher zwischenmenschlichen Beziehungen ist mir ein Rätsel und wird das wahrscheinlich auch bleiben.

E wie Egoismus

Als Hausarzt hat man oder frau ja auch immer wieder mit den diversen Auswüchsen der verschiedensten Ichs zu tun. Angefangen von irgendwelchen Patienten (meist Männer in guten Positionen), die schon statt der Begrüßung ihren ersten Forderungskatalog auf den Tisch knallen, bis zu denen, die, obwohl sie noch nie irgendeinen Beitrag zum Gemeinwohl geleistet hätten, lautstark nach allen Segnungen und Gaben desselben schreien. Dann gibt es da noch viele Junge, die nicht einsehen, warum sie so was wie arbeiten müssen, da das uncool und anstrengend ist, oder manche Mütter, die befinden, dass ich kein Recht hätte, ihren kleinen Engel an der Zerstörung meines Ordinationseigentums zu hindern. Er wolle sich schließlich frei entfalten.

Aber heute kam die Krönung. Patient M. ist Amerikaner und hat von seinem Doktor in den Staaten meine Adresse bekommen. Wie meine Bekanntheit es geschafft hat, über die Bezirksgrenzen und den großen Teich hinüber zu diffundieren, weiß ich nicht. Anyway. Jedenfalls ist M. depressiv und findet sein Leben leer und seine Arbeit unbefriedigend. Sozialleben hat er keines. Die Psychotherapeutin, zu der ich ihn geschickt hatte, hält er für inkompetent. An der Kompetenz der Psychiaterin zweifelt er ebenfalls, obwohl er sie noch nicht einmal gesehen hat. Er bezweifelt, dass sie ihn in seiner Komplexität erfassen könnten. Ich trainiere innere Ruhe und Gelassenheit.

Ich weiß nicht, wie viele Stunden wir schon reden. Zum österreichischen Kassentarif, nicht zum amerikanischen privaten, den er gewohnt war. Jedenfalls erklärt er mir heute, dass er sich die ganze letzte Woche intensiv damit beschäftigt hätte, was die Leute in seiner Umgebung für ihn tun könnten. Was sie ihm geben könnten. Was er von ihnen kriegen könnte. Nach der x-ten Stunde der Bauchnabelumkreisung kollabiert mein ohnehin klein geratener innerer Buddha und ich werde etwas lauter. Man stelle sich dazu das englische Äquivalent für „Himmel A…. und Zwirn“ vor. Und dann frage ich ihn: „Haben Sie sich jemals überlegt, was Sie für andere Menschen tun können? Womit Sie Ihren Arbeitskollegen eine Freude machen oder Sie entlasten können? Was Sie für die Allgemeinheit tun können hier in Graz? Überlegen Sie mal, ob Ihnen irgendwas einfällt, was Menschen glücklich machen könnte, oder wenn Sie keine Menschen mögen, dann helfen Sie im Tierheim! Vielleicht gibt Ihnen das was? Als Hausaufgabe denken Sie bitte bis zu unserem nächsten Termin intensiv darüber nach!“

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune