16. Mai 2018

MT50: Ärzte lernten aus der Reaktorkatastrophe (32-33/1986)

Im Jahr 1986 fand eines der traurigsten und dramatischsten Ereignisse der vergangenen 50 Jahre statt: die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl. Sie erwischte die Ärzteschaft am falschen Fuß. Wie sich herausstellte, war das Wissen in Sachen Strahlenbelastung und -schutz auch unter Medizinern überschaubar.
Die Medizinische Gesellschaft für Oberösterreich veranstaltete ein Symposium zum Thema – Medical Tribune berichtete groß darüber.

Der folgende Artikel erschien am 8. August 1986:

Strahlenbelastung nach Tschernobyl

Wiener Experten klären Ärzte auf

Medical Tribune Kongreßbericht

LINZ – Nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl haben sich in den von einer erhöhten Strahlenbelastung betroffenen Ländern mehr unberufene als berufene Sprecher zu Worte gemeldet. Strahlenphysiker, besonders aber Ärzte, die ständig mit ionisierenden Strahlen arbeiten und daher täglich solchen Strahlen ausgesetzt sind, verhielten sich auffallend still. Noch stiller die Masse der übrigen Ärzte. Der Grund dafür: Eine weitgehende Uninformiertheit über ein Problem, das plötzlich akut geworden ist. Um dieses Manko zu seitigen, veranstaltete die Medizinische Gesellschaft für Oberösterreich ein Symposium mit dem Thema „Strahlenexposition – Strahlenrisiko – Strahlenschutz“.

Die Problematik des Strahlenrisikos beginnt schon bei der Grenzwertfeststellung, einer nahezu philosophischen Aufgabe, wie Professor Dr. Rudolf Höfer, Leiter der Abteilung für Nuklearmedizin an der II. Medizinischen Universitätsklinik Wien, einleitend feststellte. Über die Wirkungen hoher Strahlendosen zwischen 25 und 600 rem weiß die Medizin gut Bescheid. Viele Röntgenologen der ersten Stunde starben an den Folgen eines Strahlenkrebses. Die Folgen höchster Strahlendosen konnten die Ärzte an den Opfern der Atombombenexplosionen 1945 studieren.

Dagegen besitzt die Medizin nur einige Erfahrungen über die Wirkungen geringer Strahlendosen in der Stärke von 5 – 25 rem. Einige Spätschäden, die nach solchen Strahlenbelastungen aufzutreten pflegen, sind bekannt.

Nahezu nichts aber weiß die Medizin über die Wirkungen kleinster Strahlendosen zwischen 0 und 5 rem. Hier ist die Medizin nur auf Spekulationen angewiesen. Man kann als wahrscheinlich annehmen, daß auch in diesen niederen Dosierungen die Wirkung linear ansteigt. Die Existenz einer Schwellendosis wird heute eher angezweifelt.

Aber auch ein noch so geringes Spätschadenrisiko muß die Gesundheitsbehörden auf den Plan rufen. Was konnten die Gesundheitsbehörden nach der Katastrophe von Tschernobyl unternehmen? Sie mußten in erster Linie sinnvolle und wirksame Maßnahmen empfehlen, die Maßnahmen mußten durchführbar sein, und sie durften aber gleichzeitig keine Panik in der Öffentlichkeit hervorrufen. Die in Österreich empfohlenen Verhaltensregeln entsprachen durchaus diesen Forderungen, und sie waren geeignet, die Strahlenbelastung der Bevölkerung insgesamt zu verringern.

Daß auch Fachleute aus Erfahrungen klug werden, gab Prof. Höfer unumwunden zu. Niemand hat vorher daran gedacht, daß sich in den Filtern von Klimaanlagen radioaktiver Staub in Mengen sammelt, der Entsorgungsprobleme aufwirft. Überrascht war man auch, daß Holunderblüten stark überhöhte Strahlenwerte aufwiesen. Man nimmt jetzt an, daß diese Blüten wie ein Schwamm vermehrt Regenwasser, das mit verstrahltem Staub vermischt war, aufgenommen haben. Daß gerade Schafe und Rehwild überhöhte Strahlenwerte aufweisen, dürfte mit ihren Freßgewohnheiten zusammenhängen. Diese Tiere fressen Gras bis auf den Boden ab und geraten so mit der strahlenbelasteten Erde in Kontakt, ganz im Gegensatz zu Kühen, die nur die oberflächlichen Blätter fressen.

Abschließend warnte Prof. Höfer, die Strahlenproblematik polemisch zu diskutieren. Man müsse die neue Situation nüchtern und rational betrachten.

Dr. Ernst Havlik, Wissenschaftlicher Oberrat und Strahlenschutzbeauftragter an der II. Med. Univ.-Klinik Wien, rückte mit einem eindrucksvollen Vergleich die Relationen der durch Tschernobyl verursachten erhöhten Strahlenbelastung zurecht: Man stelle sich den Wiener Stephansdom vor und daß an seiner Turmspitze die kritische Dosis von 100 rem herrsche. Nimmt man an, daß vor dem Haupteingang des Domes in Höhe des Gehsteiges 0 rem gemessen werden, so ist durch Tschernobyl das Strahlenrisiko in Relation zur Turmhöhe (135 m) um 25 cm gestiegen.

Dr. Havlik beeindruckte aber mit noch weiteren Zahlen sein aufmerksames Publikum. So beträgt die natürliche Strahlenbelastung im Fremdenverkehrsort Königswiesen im waldreichen Mühlviertel (Oberösterreich) 190 mrem pro Jahr, und ein Brückenpfeiler einer der Linzer Donaubrücken strahlt gar 400 mrem pro Jahr aus.

So steigt die Krebsmortalität

Diese Strahlendosen sind aber Bagatellen zu jenen Dosen, die Ärzte ihren Patienten aus diagnostischen Gründen zumuten und die auch manche Patienten auf sich nehmen, um sich in Sicherheit wiegen zu können., an keiner ernsten Krankheit zu leiden. Haben Sie schon gewußt, daß beim Ganzkörper-CT eine Strahlenbelastung von 3000 mrem wirksam wird und beim Ganzkörper-Scan 20 000 Nanocurie auf den Körper einstrahlen?

Auch Professor Dr. H. Kriegel, Leiter des Institutes für Nuklearbiologie der Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung, Neuherberg bei München, hatte beruhigendes Zahlenmaterial mitgebracht: In der Bundesrepublik Deutschland beträgt die Krebshäufigkeit rund 20 %. Die durch Tschernobyl verursachte zusätzliche Strahlenbelastung wird diesen Prozentsatz auf 20,01 % erhöhen. Es ist somit eine Steigerung der Mortalität im Verhältnis 1 : 10 000 zu erwarten. Dies bedeutet, daß die Zahl von 10 000 Krebstoten um einen vermehrt wird.

Kleine Strahlendosen unschädlich?

Prof. Kriegel wandte sich auch gegen die weitverbreitete Ansicht, auch kleinste Strahlendosen könnten Schaden verursachen. Das Gegenteil ist nämlich richtig. Aus Zelluntersuchungen an Menschen, die ständig unter hoher natürlicher Strahlenbelastung stehen, wie etwa in Badgastein, weiß man, daß in den Zellen ein starker Reparaturmechanismus wirksam wird. Kleine Strahlendosen sind daher nicht nur wirkungslos, sie fördern im Gegenteil das Auftreten von Abwehrkräften. Obwohl es nicht ausgesprochen wurde, liegt der Schluß nahe: Wird uns Tschernobyl gar eine „stille Feiung“ gegenüber Strahlen bescheren?

In der anschließenden Diskussion, die lobenswerterweise nicht schon nach kurzer Zeit abgewürgt wurde, wollten die Kollegen in erster Linie wissen, was sie nun ihren verängstigten Patienten raten sollten. Die Antwort: Man könne bedenkenlos alles essen, was auf den Markt kommt oder was im eigenen Garten wächst. Die Gegenfrage bleib nicht aus: Warum dann Empfehlungen und Verbote, wenn das alles nicht so gefährlich ist? Prof. Höfer erklärte diesen scheinbaren Widerspruch so: Ziel der Gesundheitsbehörden muß es sein, durch sinnvolle und praktikable Empfehlungen die Strahlenbelastung der Bevölkerung möglichst niedrig zu halten. Der einzelne Mensch kann tun und lassen, was er will, sein Risiko, das er eingeht, ist so gering, daß es in Zahlen nicht angegeben werden kann.

Das mag manchen Ärzten einleuchten, ob das aber eine sensibilisierte und verängstigte Bevölkerung verstehen wird?   E.S.

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Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune