Start low, go slow – Schmerztherapie bei geriatrischen Patienten

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Ältere Menschen leiden häufig an chronischen Schmerzen, die in vielen Fällen gar nicht oder nur unzureichend versorgt sind. Dabei gibt es Medikamente, die für die Linderung von Schmerzen im Alter besonders gut geeignet sind – bei anderen wiederum ist Vorsicht geboten.(ärztemagazin 10/17)

SERIE CHRONISCHER SCHMERZ – TEIL 8

RUND DIE HÄLFTE älterer Menschen in Österreich leidet an Schmerz, zeigte eine vor einigen Jahren veröffentlichte Studie, die rund 500 Kärntner im Alter zwischen 65 und 97 Jahren befragte.1 Die Ergebnisse im Detail: 53,2 Prozent der Männer sowie 64,2 Prozent der Frauen berichteten über Schmerzen, wobei die überwiegende Mehrheit (84,7%) dabei angab, dass die Beschwerden bereits seit Jahren bestehen. Da es sich bei den Befragten aber um eigentlich gesunde Menschen handelte, müsse bei Krankenhauspatienten oder solchen in ambulanter Betreuung von noch höheren Raten chronischer Schmerzen ausgegangen werden, kommentiert Prim. Dr Georg Pinter, Vorstand der Abteilung für Akutgeriatrie und Remobilisation am Klinikum Klagenfurt am Wörthersee. Die Schmerzursachen sind vielfältig, zu den häufigsten Ursachen zählen degenerative Skeletterkrankungen, Osteoporose, Folgen eines Sturzes, Polyneuropathien, Zosterkomplikationen sowie Tumore oder Metastasen.

FEHLENDE ARTIKULIERUNG. Diese Aufzählung impliziert allerdings, dass man die Ursachen und damit auch den Schmerz selbst bereits erkannt hat – und das ist bei vielen Schmerzleidenden einfach nicht der Fall, kritisiert der Experte. „Natürlich führen wir in der Akutgeriatrie immer ein Basis-Assessment der Schmerzen durch. Aber es gibt Hinweise darauf, dass Schmerzen bei Menschen, die sich etwa aufgrund von Demenz oder Aphasie nicht mehr artikulieren können, unterdiagnostiziert und untertherapiert sind. Wir wissen beispielsweise, dass Menschen mit Demenz weniger häufig starke Opioide bekommen – also Stufe 3 des WHO-Stufenschemas – als Menschen ohne Demenz.“

NON-VERBALE SCHMERZSKALEN. Welche Hinweise sind nun zu beachten, wenn die verbale Kommunikation nicht mehr möglich ist? Mögliche vegetative Zeichen sind Tachykardie, Hypertonie, flache, hechelnde Atmung, blasses, schweißiges Gesicht, außerdem ist bei diesen Menschen auf Schmerzäußerungen durch Stille und Rückzug, Berührungsempfindlichkeit, Embryonalstellung oder Gesichtsmimik zu achten. Für die Messung von Schmerzen beim non-kommunikativen älteren Patienten stehen Ratingskalen wie etwa die Doloplus2 oder die BESD-Skala zu Verfügung; die BESD-Skala umfasst Atmung, negative Lautäußerungen, Körperhaltung oder Reaktion des Patienten auf Trost, die Doloplus2 berücksichtigt unter anderem Schonhaltung, Schutz von Körperzonen, Mimik, Bewegung, Schlaf und soziales Verhalten.

VERÄNDERTE PHARMAKOKINETIK. Bei Schmerzmedikation geriatrischer Patienten sind zunächst die pharmakokinetischen Besonderheiten zu beachten: der Magen-pH ist höher als bei Jüngeren, der intestinale Blutfluss und die gastrointestinale Motilität sind geringer, was die Resorption beeinträchtigt; außerdem ist die Plasmaeiweißbindung aufgrund der Abnahme von Plasmaproteinen bei Immobilisation oder mangelhafter Ernährung verringert. Die Ausscheidung über die Nieren ist beeinträchtigt: der renale Blutfluss und die Anzahl der Nephrone nimmt ab, die GFR nimmt pro Lebensjahrzehnt um etwa 10ml/ min ab und liegt im Alter von über 85 Jahren oft nur noch bei 33,0ml/min.

SCHMERZMEDIKAMENTE IM ALTER. „Bei den Nicht-Opioiden steht Metamizol an erster Stelle. Dieser Wirkstoff ist im Alter gut wirksam und auch gut verträglich. Bei den Opioiden kommen vor allem Hydromorphon und Buprenorphin als primäre Medikamente zum Einsatz“, erklärt Georg Pinter. Buprenorphin ist mit einer geringer ausgeprägten Obstipation verbunden und wird generell gastrointestinal gut vertragen. Allerdings „geht eigentlich jede Opioidtherapie mit Obstipation einher, und diese sollte jedenfalls mit einer Begleittherapie behandelt werden. Auch eine Übelkeit ist speziell zu Beginn der Therapie grundsätzlich möglich, darauf sollte man vorbereitet sein und hier auch antizipativ behandeln.“ Ein weiterer „sehr großer Vorteil“ von Buprenorphin ist das geringere Sturzrisiko im Vergleich zu andern Opioiden, „es gibt sogar Hinweise aus Studien, wonach Buprenorphin sturzprotektiv wirken könnte“. Hydromorphon wiederum hat sich auch wegen seiner Pharmakokinetik durchgesetzt. „Eine verringerte Nierenfunktion muss bei diesem Medikament weniger berücksichtigt werden als bei anderen Opioiden.“

Pinter: „Bei allen Schmerztherapien im Alter – Ausnahme ist Durchbruchsschmerz – muss man niedrigdosiert beginnen und langsam erhöhen: start low, go slow“
Pinter: „Bei allen Schmerztherapien im Alter – Ausnahme ist Durchbruchsschmerz – muss man niedrigdosiert beginnen und langsam erhöhen: start low, go slow“

VORSICHT BEI NSAR. Nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) sind „natürlich gute und wichtige Medikamente gegen den Schmerz“, aber hier ist zunächst unbedingt eine Differenzierung des Schmerzes erforderlich: Ist der Schmerz entzündungsbedingt, dann ist eine vorübergehende Therapie mit NSAR notwendig, „aber auf keinen Fall ist bei alten Patienten eine NSARDauertherapie zu verabreichen“. Beispielsweise ist die Kombination einer möglicherweise vorhandenen Niereninsuffizienz mit einer gleichzeitigen Herzinsuffizienz und NSAR-Gabe sehr problematisch, da „NSAR zu einer Flüssigkeitsretention führen und der Patient dekompensieren kann.“ NSAR zählen generell zu den problematischsten Arzneimitteln in der Geriatrie, sie sind bei einem Viertel bis zu einem Drittel aller auftretenden medikamentösen Nebenwirkungen deren Ursache. Daher sollten sie nur kurzfristig und unter engmaschiger Kontrolle von Gewicht und Nierenfunktion eingesetzt werden.

NEUROPATHISCHER SCHMERZ. Liegt kein entzündungsbedingter, sondern ein neuropathischer Schmerz vor, sind die neuen SSRI eine Möglichkeit – „die aber auch Nebenwirkungen haben“. Duloxetin steht zwar für die Behandlung des neuropathischen Schmerzes von Diabetikern in den Leitlinien, hier sei aber erstens auf eine Hypernatriämie und zweitens – wie bei allen SSRI – auf eine thrombozytenaggregationshemmende Wirkung zu achten. Bei einem Patienten, der bereits eine duale gerinnungshemmende Therapie einnimmt, „sollte man diese SSRI-Wirkung im Hinterkopf haben und auf häufige Kontrollen achten“. Pregabalin wiederum ist mittlerweile ebenfalls als Erstlinientherapie beim neuropathischen Schmerz einsetzbar und hat als Vorteil außerdem eine schlafanstoßende Wirkung. „Und: Bei allen Schmerztherapien im Alter muss man niedrigdosiert beginnen und langsam erhöhen: start low, go slow“, betont Pinter (natürlich mit Ausnahme eines Durchbruchsschmerzes).

TABLETTEN, TROPFEN, MÖRSERN? Ein weiteres Problem in der medikamentösen Therapie älteren Menschen ist die Verabreichungsform; Schluckbeschwerden sind „eigentlich immer“ ein Thema. In einigen Fällen kann eine Verabreichung in Tropfenform hilfreich sein, doch ist hier unbedingt auf zwei Faktoren zu achten: Erstens, ist sichergestellt, dass der Patient zu Hause die Flasche öffnen kann – ein Sicherheitsverschluss macht dies bei Arthrose, Morbus Parkinson oder Tremor häufig unmöglich – und zweitens, ist der Patient in der Lage, die Tropfen richtig abzuzählen? Manche Tabletten lassen sich im Mörser zerstoßen, bei sondenernährten Patienten ist auf die Sondengängigkeit des Wirkstoffs zu achten.

ENGMASCHIGE KONTROLLE. Die Schmerzmedikation ist anfangs monatlich zu kontrollieren, wobei die Häufigkeit der Kontrolltermine stark von der Klinik des Patienten abhängen, berichtet Prim. Pinter. „Ein Patient, der weniger trinkt und schon exsikkotisch ist, wird eher eine Nierenfunktionsstörung entwickeln als ein Patient, der klinisch recht stabil ist.“ Vorgaben seien in der Geriatrie aber grundsätzlich schwierig, denn: „Geriatrische Schmerzpatienten müssen immer individualisiert behandelt werden.“

ÖGGG-Kompendium und PRISCUS-Liste

Mehr Information zur Schmerzmedikation in der Geriatrie finden Sie hier: Die Österreichische Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie (ÖGGG) hat ein Kompendium zum Thema „Schmerz im Alter“ herausgegeben.
Info, Bestellung: www.geriatrie-online.at/publikationen/schmerz-im-alter/

Die deutsche Universität Witten/ Herdecke hat eine PRISCUS-Liste veröffentlicht, die einen Überblick über potentiell inadäquate Medikation für ältere Menschen gibt. Die Liste beinhaltet auch Maßnahmen in Situationen, in denen diese Arzneimittel trotzdem verwendet werden sollen und informiert darüber, bei welchen Begleiterkrankungen bestimmte Arzneimittel nicht zum Einsatz kommen sollten.
Download: http://priscus.net/download/PRISCUS-Liste_PRISCUS-TP3_2011.pdf

Referenz:
1 Likar R, et al. „Lebensqualität und Schmerz im Alter – Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage im Bundesland Kärnten“, Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 2009