Retschitzegger: Die Weiße Rose und der Schmerz

Eigentlich wollte ich ja über „Die Weiße Rose“ schreiben heute. Inge Aicher-Scholl wurde vor 100 Jahren geboren, und vor 70 Jahren beschrieb sie die Geschichte ihrer Geschwister Sophie und Hans Scholl, welche 1943 wegen ihres Widerstandes gegen das Hitlerregime hingerichtet wurden. Hans war Medizinstudent – und kann uns nach wie vor als Vorbild für Haltung dienen. Ich wechsle jetzt beim Schreiben genauso abrupt das Thema, wie es heute nachmittags gewechselt hat – weil plötzlich war er da: der Schmerz! Im Lauf weniger Stunden begann ein Feuerwerk von akutem Schmerz in meiner Mundhöhle, einer Zahnwurzel. Ja, ich weiß, viele haben das schon erlebt – ich werde jetzt auch nicht jammern. Aber – und ich staunte selbst am meisten – was kann Schmerz mit uns innerhalb weniger Stunden machen …?! Die frohe Sommerstimmung – weg! Die Erholung nach langem Urlaub – weg! Zuversicht und Freude, Gelassenheit und Wohlbefinden – alles war weg im Lauf einer Stunde; zeitgleich mit dem Anschwellen des Abszesses.

Lernen durch Schmerzen

Nein, ich bin keine besonders wehleidige Person. Aber eben plötzlich: der Schmerz! Der Schmerz als Lehrer, demonstrierend und dominant, heftig und kräftig, einschränkend und deprimierend – innerhalb von wenigen Stunden. Und mir wurde wieder bewusst: wie „gut“ es uns tut, wenn wir manchmal das spüren, was unsere PatientInnen spüren! In kleinen Ansätzen erleben, woran Menschen leiden, nämlich wirklich leiden. Ein Schmerz, der uns im Innersten trifft, der uns zermürbt und klein macht. Ja, so war das heute. Dann war ich rasch in zahnärztlichen Händen – dankbar, dass es hier bei uns Obamacare statt Trumpfake gibt. Jedenfalls: ein Nachmittag des Lernens! Der Zahnkanal ist geöffnet. Es geht mir gut. Und es ist auch gut, wieder einmal kurz verstanden zu haben, WAS Schmerz wirklich ist, sein kann! Er nimmt uns, er trifft uns und es steht niemandem zu, ihn NICHT ernst zu nehmen! Und es braucht Widerstand gegen den Schmerz; und Kompetenz, Klarheit und Menschlichkeit! Vergleiche sind immer heikel. Ich vergleiche nicht. Die Weiße Rose ist unvergleichlich. Der Schmerz unserer PatientInnen ist unvergleichlich.

Um den Inhalt zu sehen, müssen Sie sich einloggen oder registrieren.
Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune