Der Tag des Abriss

Natürlich wurde unsere alte Apotheke nicht an einem Tag abgerissen. Der Tag, an dem jedoch der eigentliche Abriss begann, wird mir lebhaft in Erinnerung bleiben. Auch die eigentlich alltäglichen Dinge bleiben dann umso plastischer in Erinnerung, wenn sie mit dem Abriss eines alten Gründerzeithauses, in dem fast hundert Jahre lang unsere Apotheke beheimatet war, zusammenfallen.

Da war der Mann, der freundlich, aber bestimmt auf seinen Kundenrechten bestand. Außerdem wollte er ganz offensichtlich plaudern, während ich ihm zwischen ellenlangen neuen Laden seine Medikamente zusammensuchte. Zunächst bewunderte er meine Sportlichkeit … dann kam er auf unsere Homepage zu sprechen: „Ihr seid ja wirklich ein tolles Team! Alles, wirklich fast alles habt ihr auf eurer Homepage informativ aufgelistet. Die ganze TCM, eure Spezialnaturkosmetik, euren Lieferservice … aber etwas Wesentliches fehlt mir doch: eure Öffnungszeiten!“ Ich starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Nach sowas hatten mich bisher nur verschlafene SubstitutionskundInnen und verwirrte NachtdienstanruferInnen gefragt. „Aber lieber Herr, die Öffnungszeiten sind doch so gut wie in ganz Österreich die gleichen! Und das seit vielen Jahrzehnten!“ „Ach ja?“, fragte er mit hochgezogener Braue. „Möchten Sie damit sagen, ich hätte eine Bildungslücke?“ „Aber nein“, beruhigte ich ihn. „Schauen Sie, hier!“ Ich reichte ihm den Kassabon. „Da sind sie ja!“ Zum Glück war mir noch eingefallen, dass die Öffnungszeiten auf unseren Bons stehen …

An diesem Tag erreichte uns auch ein ungewöhnlicher Auftrag. „Ich brauche dringend diese natürliche Nasensalbe, habe aber eigentlich überhaupt keine Zeit, sie abzuholen. Können Sie sie mir nicht einfach hinter Ihrem Apothekencontainer im Gras vergraben und mir per SMS übermitteln, wo genau ich sie finde?“ Da es sich um eine Bekannte unserer Frau Chefin handelte, übernahm ich den kuriosen Auftrag. Allzu dringend dürfte das Anliegen aber letztendlich doch nicht gewesen sein, da ich zwei Tage später mangels Abholung die Salbe in ihrer Sackerlhülle wieder ausbuddeln musste. (Es stellte sich mir kurz, aber heftig wieder einmal die Sinnfrage meines Studiums … :-))

Und dann kam die Mittagspause. Ungewöhnlicher Lärm drang von gegenüber zu uns herüber. Die Bagger waren aufgefahren, der Wasserwerfer in Betrieb genommen, der große Abriss hatte begonnen. Das Haus hatte bereits ein klaffendes Loch in der Mitte. In großer Höhe hängende Toiletten und vereinzelte Kinderfensterklebebilder machten einen verlorenen Eindruck. Was mich fast noch mehr beeindruckte, war aber, was sich auf dem gegenüberliegenden Gehsteig abspielte:  Mehrere Insassen des angrenzenden Wohnheims, teilweise Rollstuhlbenutzer, befanden sich dort und filmten das Spektakel mit ihren Handykameras. Als wären sie auf einem Popkonzert … Da ich zufällig auf meinem Weg zu einer Labestation auch nochmals umkehren musste, weil ich ob der verwirrenden Zustände an diesem Tag ohne Portemonnaie weggegangen war, kam ich doppelt so oft in den Genuss dieses schrägen Anblicks. Aber so ein Haus wird ja auch nicht alle Tage abgerissen …