4. Feb. 2022Medizin und ich

Das Pandemiefett – ein Kavaliersdelikt?

Man nimmt sich ja oft vor, dass im neuen Jahr alles besser werden soll, aber erfahrungsgemäß funktioniert das so gut wie nie. Im Gegenteil. Es wird nur schlechter. Da ich mir seit Jahren vornehme, weniger zu arbeiten, und seit Jahren feststelle, dass es immer nur mehr und mehr wird, hatte ich heuer auch keine große Hoffnung in die verändernden Kräfte eines neuen Jahres. Umso erstaunter war ich am ersten Montag des Jahres zum Ende des Arbeitstages. Montage haben seit ein paar Jahren die Eigenschaft, mich regelmäßig an meine Grenzen und weit darüber hinaus zu befördern.

Bild einer attraktiven Frau mit Schutzmaske isoliert auf weißem Hintergrund
iStock/macniak

Normalerweise ist mir bereits um 11 Uhr Vormittag kotzübel, ab 12 Uhr kriegen sich die Extrasystolen nicht mehr ein, und wenn wir dann doch wider Erwarten irgendwann am späten Nachmittag (Ordinationsschluss wäre um 13 Uhr) fertig sind, hege ich die fixe Absicht, mich umschulen zu lassen. Oder möchte lieber gleich aus dem Fenster springen. Nicht so am 3. Jänner 2022. Wir sind am frühen Nachmittag fertig und meine Assistentin meint: „Wow, ich hab gar nicht gewusst, dass man am Montag auch angenehm arbeiten kann und das ganz stressfrei.“ Die Tagesliste zeigt 83 Patienten. Wir haben also nicht gefaulenzt. Statt einem völlig fertigen „Mama, ich will so nimmer“ töne ich gut gelaunt: „Liebster, wir haben Zeit und Energien. Gemma a Runde Nordic walken, bevor es finster wird!“ Dann sage ich noch zu meinen Mitarbeitern: „Leute, schreibt’s euch diesen Montag in den Kalender. Zur Erinnerung, wie schön das Arbeiten sein kann. Denn es wird nie wieder so werden!“

Idylle wie im Horrorfilm

Gerade ist der dritte Montag im Jänner vergangen und die Arbeit macht noch immer Freude. Ich wollte mich noch immer nicht umschulen lassen und schon gar nicht aus dem Fenster springen. Das Ganze wird mir immer suspekter. Beim Vergleich der Umsätze mit den entsprechenden Tagen in vergangenen Jahren kann ich keine riesigen Einbrüche entdecken. Die Ordi ist voll, ich bin gut beschäftigt, aber nicht erschlagen. Die Leute sind nett, pünktlich und kooperativ. Sogar trotz Vollmond und Fönsturm ist keiner zum Werwolf mutiert. Niemand hat sich noch beklagt, dass ich zu wenig Zeit für ihn hätte, obwohl ich ihm meinen freien Abend geopfert habe. Niemand hat mich angeschrien oder die Ordinationstür hinter sich zugeknallt. Ich bin richtig glücklich und dankbar. Aber innerlich macht mich das unruhig. Kennen Sie diese Szenen aus Horrorfilmen, die so besonders schön sonnig und idyllisch sind? Alle Beteiligten lächeln entspannt und sanfte Musik wiegt einen in glücklicher Sicherheit. Nur damit man sich dann so richtig schreckt, wenn das Monster aus dem Hinterhalt angreift oder wenn rauskommt, dass alles nur ein Traum war. Ich warte also in gewisser Weise darauf, plötzlich in der bekannten Arbeitsrealität aufzuwachen und dem Monster ins Auge zu blicken.

Das Fett wird bleiben

Bis dahin genieße ich es, einmal nicht nur die so gut bekannte „Fünf-Minuten-Medizin“ zu praktizieren. Ich gönne mir wirklich Zeit für längere Gespräche. Natürlich profitieren die Patienten davon. Aber ich gönne diese Zeit auch mir. Denn es ist einfach erfüllender, wenn man spürt, dass man gute Arbeit leistet und nicht immer so durch die Patientengespräche hetzt, den Leuten die Sätze abschneiden muss und immer das Gefühl überbleibt, man könnte Wesentliches übersehen oder vergessen haben. Zeit mit den Patienten tut auch dem Hausarzt gut.

Jedenfalls kann ich mit den Leuten über Sport sprechen und über Ernährungsgewohnheiten. Ich führe keine genaue Statistik, aber so über den Daumen gepeilt hat jeder Dritte in den letzten zwei Jahren an Kilos zugelegt. Die meisten ärgern sich darüber, meinen aber im nächsten Satz lächelnd und fast zärtlich: „Sie wissen eh, das Pandemiefett. Da kann man halt nichts machen.“ Also weil Pandemie war und ist, hat man es natürlich schwerer. Homeoffice, Kontaktbeschränkungen, geschlossene Fitnessstudios, Homeschooling, der alltägliche Wahnsinn halt, und oft bleiben Essen und Trinken das letzte bisschen Genuss im Leben. Mir ist völlig klar, wie man sich das Pandemiefett erarbeitet. Und dass man es entschuldigen kann und erklären. Nur, das Pandemiefett wird dadurch keineswegs weniger bösartig und hinterhältig. Denn es wird bleiben. Es wird anhänglich sein und treu und uns nicht mehr verlassen. Und dann wird es uns Diabetes, kardiovaskuläre Erkrankungen und Kreuzschmerzen bescheren. Und es macht uns auch vulnerabler für diese Pandemie und möglicherweise auch für die nächste. Absurderweise züchten wir uns unser Risiko selber. Also berate ich weiter und screene weiter auf Fett und Zucker. Schließlich wird man all das, was man sich jetzt angeeignet hat, einmal medikamentös behandeln müssen. Statine, wir kommen! Aber es sind da auch die Müden und Blassen und teilweise Fehlernährten und Dünnen. Ihr Problem ist nicht das Fett. Aber mein Problem ist, dass wir zwar für die, die zu viel haben, alles untersuchen und screenen sollen und dürfen. Aber dass die anderen ihre Mängel selber zahlen sollen.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune