7. Okt. 2021Medizin und ich

Krankengeschichten, die das Leben spielt

Herr M. wurde gerade von seiner Hausärztin auf die Notaufnahme geschickt mit der Verdachtsdiagnose „akutes Coronarsyndrom“. Er ist in den Fünfzigern und seit Jahrzehnten starker Raucher. Alle ihre Versuche, ihn vom Aufhören oder zumindest von einer Reduktion der Giftstängel zu überzeugen, sind bisher fehlgeschlagen. „Irgendein Laster muss der Mensch ja haben“, ist seine Antwort auf ihre frustranen Versuche.

Aus Papier ausgeschnitten, das Menschen darstellt, die Händchen haltend auf einem hölzernen Schreibtisch stehen
iStock/AndreyPopov

Er hat halt einfach nie aufhören wollen, selbst als es mit der Luft immer schwerer geworden war. Glücklicherweise gibt es immer neue und bessere Medikamente, um die Auswirkungen der COPD zu schmälern. Mindestens zwei Mal im Jahr kommt es trotzdem zu Exazerbationen, aber mit Moxifloxacin und anderen Antibiotika hat seine Ärztin diese immer wieder in den Griff gekriegt. Sein Arbeitgeber akzeptiert, dass Herr M. jeden Winter ein paar Wochen Krankenstand benötigt. Und er akzeptiert auch, dass Herr M. bei der Arbeit immer wieder Pause macht, um im Hof eine zu rauchen. Wenigstens qualmt er jetzt nicht mehr seine Bürokollegen zu.

Daheim ist das anders. Seine Frau scheucht ihn, so oft es geht, mit seinem Tschick in den Garten. Aber nach dem Essen, wenn’s doch so gemütlich ist, oder im Winter, wenn es draußen friert, lässt er sich nicht vertreiben. Nicht einmal, als die Kinder noch klein waren. Andererseits hat man es ja vor zwanzig Jahren noch nicht so richtig wissen können, wie schädlich auch das Passivrauchen ist. Ob seine Tochter deshalb Asthma hat, wird man nie herausfinden.

Jedenfalls hat Herr M. sein Leben lang seine Gesundheit torpediert, seinen Kindern geschadet, seine Bürokollegen eingenebelt und dem Nachbarn im Restaurant das Essen vermiest. Jetzt liegt er auf der Notaufnahme und es wird alles Medizinmögliche für ihn getan. Er bekommt zwei Stents, einen Haufen teurer Medikamente und natürlich auch einen Reha-Aufenthalt auf Kosten der Krankenkasse. Und das ist gut so. Denn egal, wie jemand krank geworden ist und warum: Wir haben eine solidarische Krankenversicherung und ein jeder hat das Recht auf dieselbe optimale Versorgung.

K. ist zwölf und liegt auf der Kinderintensiv. Mit einer Enzephalitis. Die Eltern haben damals einem angeblichen Homöopathen auf irgendeiner Impfplattform geglaubt, der gemeint hat, dass es wichtig sei, die Masern zu kriegen. Das wäre gut fürs Immunsystem. K. hat sich jetzt bei seinem jüngeren Bruder aus dem Kindergarten angesteckt, bei dem die Erkrankung glücklicherweise glimpflicher verlaufen ist. K. bekommt alles, was die Intensivmedizin leisten kann. Leider wird es trotzdem eine Defektheilung geben. K.s Eltern werden alle medizinische und soziale Unterstützung (die in einer solchen Situation eh oft sehr insuffizient ist) bekommen. Und der Typ verbreitet seine unsinnigen Theorien über die Masern und das Immunsystem auch weiter. Denn wir leben in einem freien Land.

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Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune