Zustand nach Stoffwechselerkrankung?

Eine Nahaufnahme einer hölzernen Mannequinfigur, die steifen Hals ausdrückt.
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In den Arm ausstrahlende Schmerzen der Halswirbelsäule führen diesen Patienten durch eine Odyssee an Untersuchungen. Ein genauer Blick auf die Krankengeschichte erweist sich schließlich als Anhaltspunkt. (CliniCum|innere 02/20)

Anamnese

Im November 2008 wird ein damals 33-jähriger Patient bei rezidivierender Cervicobrachialgie (li>re) mit passagerer Hypästhesie beim Orthopäden vorstellig. Ein Röntgen der Halswirbelsäule (HWS) im niedergelassenen Bereich zeigt eine inzipiente Osteochondrosis deformans mit Achsenabweichung sowie eine inzipiente Uncarthrose. In einer weiteren Röntgenaufnahme der HWS in einem Landeskrankenhaus wird ein altersentsprechender Befund erhoben. Zur weiteren Abklärung wird eine MRT der HWS empfohlen und eine Zuweisung zum Facharzt für Neurologie veranlasst.

Im MRT der HWS finden sich neben einer bekannten Streckhaltung, eine Chondrose der Disci in der unteren Hälfte sowie links eine mediolaterale bis laterale große Extrusion in der Etage C5/C6 mit erheblichem lokalem raumforderndem Effekt auf den Duralsack und das Myelon. Im MRT des Schädels zeigen sich auffallende hyperintensive T2-Signalalterationen symmetrisch an der weißen Hirnsubstanz beidseits. Im Juni 2009 wird der Patient zur Abklärung der White Matter Lesions stationär aufgenommen.

Differenzialdiagnosen

Die Liste der Differenzialdiagnosen von White Matter Lesions ist lang: Vaskulär (Posteriore Reversible Encephalopathie- Syndrom [PRES], Cerebral Autosomal Dominant Arteriopathy with Subcortical Infarcts and Leukoencephalopathy [CADASIL], Protein-S-Mangel, Veränderungen im Rahmen einer Hypertonie) und non-vaskulär wie: toxisch-metabolisch (Alkohol), Leukodystrophie und Mitochondriopathien, infektiös (infektiöse inflammatorische demyelinisierende Erkrankungen, wie HIV oder progressive Multifokale Leukenzephalopathie), immunmediert (Idiopathische inflammatorische demyelinisierende Erkrankung [IIDDs], Multiple Sklerose [MS] und MS-Varianten wie Neuromyelitis optica [NMO]), „altersassoziiert“ oder neoplastisch.

Weiterführende Diagnostik

Im Rahmen des stationären Aufenthaltes wird ein umfangreicher neurologischer Status erhoben, welcher unauffällig ist, neuropsychiatrisch zeigen sich keine Auffälligkeiten. Weitere Befunde sind in Kasten 1 aufgelistet. Bei V.a. CADASIL wird zudem ein humangenetischer Befund eingeholt, welcher diesen Verdacht jedoch nicht bestätigt. Ein neurochirurgisches Konsil empfiehlt bei Discushernie C5/C6 eine Operation; diese lehnt der Patient jedoch ab. Im Arztbrief wird unter „begleitend anamnestische Informationen“ aufgelistet:

  • Fibröse Dysplasie des Os sphenoidale
  • Redeviatio septi nasi
  • fragliche Enzephalitis als Kind
  • anamnestisch: Phenylketonurie, diätetisch bis zum achten Lebensjahr eingestellt
  • Discusprolaps C5/C6
  • Discusprotrusion C6/C7

Kasten 1: Diagnostik im Rahmen des stationären Aufenthaltes

Laborbefund: minimal erhöhte ALT (57U/l), ansonsten unauffällig
Liquorpunktion: kein Hinweis auf einen Infekt, oligoklonale Banden, eine intrathekale Synthese o.Ä.
EEG: dysrhythmisch mit geringen Zeichen einer latent erhöhten cerebralen Erregungsbereitschaft über den hinteren Quadranten bds., epilepsiespezifische Potenziale waren nicht darstellbar.
Medianus SSEP: bds. altersentsprechend
NLG obere und untere Extremität: elektrophysiologischer Befund im altersentsprechenden Normbereich an allen abgeleiteten Nerven
NNH-CT: Fibröse Dysplasie des Os sphenoidale, kein Nachweis destruktiver ossärer Veränderungen; in Abhängigkeit von vorhandenen auswärtigen Vorbefunden und Klinik eventuell ergänzende MRI-Untersuchung empfohlen.
CCT: keine Blutung, altersentsprechend weit gestelltes Liquorsystem, keine Hirndruckzeichen
HNO-Befund: Redeviatio septi nach rechts
24-h-EKG: permanenter Sinusrhythmus, keine Pausen, SVES, VES, mittlere HF 64/min
24-h-Blutdruck: 90 Prozent gültige Messungen, permanent erhöhte Werte mit durchschnittlichem systolischen RR von 143mmHg, max. systolischer RR: 210mmHg

Arbeitsdiagnose

Zur weiteren Abklärung wurde eine Transösophageale Echokardiographie (TEE) im niedergelassenen Bereich empfohlen, in welcher sich bei ansonstem unauffälligem Befund ein kleines Foramen ovale zeigte. Wegen Letzterem erfolgte eine Vorstellung beim niedergelassenen Neurologen. Dort wurde ein „Zusammenhang zwischen dem persistierenden Foramen ovale und den MR-tomografisch nachgewiesenen Veränderungen“ schriftlich festgehalten und der Patient an die Vitienambulanz im AKH Wien zugewiesen.

Weiterer Verlauf

Im Oktober 2009 wurde der Patient ebendort kardiologisch vorstellig. Im Rahmen der Vorstellung erhielt er ein neurologisches Konsil, in welchem festgestellt wurde, dass die White Matter Lesions als residuelle Läsionen bei Phenylketonurie zu werten sind. Im Abschlussbericht der Kardiologie ist festgehalten, dass von einem katheterinterventionellen Verschluss bei persistierendem Foramen ovale abgesehen wird. Eine MRT-Kontrolle in einem Jahr wurde empfohlen. Der weitere Verlauf ist unbekannt und in den zugänglichen Unterlagen nicht einsehbar. Der Patient war seither an keinem Stoffwechselzentrum in Österreich vorstellig.

Diagnose und Diskussion

Der hier vorgestellte Patient ist leider kein Einzelfall. Die Phenylketonurie (PKU) ist die häufigste der seltenen angeborenen Stoffwechselerkrankungen (Inherited Metabolic Diseases, IMD) in Europa (siehe auch Kasten 2). Ursächlich für die Erkrankung ist ein Funktionsverlust der Phenylalaninhydroxylase (PAH), wodurch die Aminosäure Phenylalanin nicht zu Tyrosin verstoffwechselt werden kann. In Folge kommt es zum Überschuss und zur Ablagerung von Phenylalanin und zum Mangel von Tyrosin. Letzeres ist essentiell als Substrat für die dopaminerge Bahn und es kommt zu einer Störung der Synthese von Tyrosin-Folgeprodukten wie Melanin, Dopamin und Noradrenalin, reduzierte Konzentrationen von Serotonin und Glutamat, sowie Veränderungen in der weißen Substanz.

Die Behandlung besteht aus einer eiweißfreien Diät und der Substitution essenzieller Aminosäuren, welche ab der Geburt streng und lebenslang eingehalten werden muss. Gelingt dies, ist eine unauffällige motorische, neurologische und neuropsychiatrische Entwicklung möglich. Wird die Diät nicht eingehalten sind schwere Folgen wie Mikrozephalie, psychomotorische Entwicklungsstörungen, Muskelhypertonie etc. zu beobachten. Aufgrund der relativen Häufigkeit und der Möglichkeit der Behandlung, wird die PKU seit 1968 im Österreichischen Neugeborenenscreening getestet. Seither wurden die Behandlungsrichtlinien häufig geändert. So wurde 1970 eine eiweißarme Diät nur bis zum achten Lebensjahr, in den 80er-Jahren bis zum zwölften Lebensjahr empfohlen.

Kasten 2: Phenylketonurie (PKU)

  • 1:10.000 Lebendgeburten in Europa (Österreich: 1:8.000, Türkei: 1:4.000, Finnland: 1:200.000)
  • autosomal rezessiv vererbt
  • Funktionsverlust/-einschränkung der Phenylalaninhydroxylase (PAH)
  • Therapie: eiweißfreie Diät ab der Geburt
  • bei frühzeitiger Behandlung: unauffällige Entwicklung
  • bei ausbleibender Behandlung: schwere geistige und motorische Retardierung
  • bei unterbrochener Diät: variable Ausprägung von Symptomen wie Konzentrationsstörungen, Beeinträchtigung von Exekutivfunktionen, Depression
  • Wiederaufnahme der Diät ist zu jedem Zeitpunkt des Lebens empfohlen
  • Bei anamnestischen Hinweisen auf das Vorliegen einer PKU sollte umgehend Kontakt mit einem Stoffwechselzentrum (z.B.: AKH Wien, Uniklinikum Graz, SALK, Uniklinik Innsbruck) aufgenommen werden.

Auch änderten sich die empfohlenen Höchstwerte für Phenylalanin häufig. Während es immer noch keine einheitlichen Richtlinien für diese Höchstwerte gibt, gilt die Indikation der lebenslangen Einhaltung der eiweißfreien Diät als gesichert. Es ist jedoch davon auszugehen, dass „viele“ Patienten hiervon keine Kenntnis haben und denken, dass sie ihre Erkrankung überstanden haben, da sie im Kindesalter die Diät beenden konnten – wie auch der junge Mann in diesem Fallbericht. Einen Zustand nach einer angeborenen Erkrankung gibt es jedoch nicht. Spätfolgen wie Depression, Kopfschmerzen, motorische Unruhe, Konzentrationsstörung, Störungen der Exekutivfunktionen, Aggressionsverhalten werden häufig beobachtet.

Eine Wiederaufnahme der eiweißfreien Diät ist zu jedem Zeitpunkt empfohlen. Die Betroffenen profitieren hiervon, egal wie weit fortgeschritten die Erkrankung ist. An der MedUni Wien wird im Herbst 2020 ein Projekt zur aktiven Suche nach fehlinformierten PKU-Patienten starten, um diese über die Indikation zur lebenslangen eiweißfreien Diät aufzuklären und ggf. bei der Wiederaufnahme einer Therapie zu begleiten. Neben der Diät stehen mittlerweile weitere Medikamente zur Verfügung, ebenso hat sich im Bereich der Aminosäuremischungen und beim Angebot an eiweißfreien Nahrungsmitteln so viel getan, dass die Behandlung deutlich einfacher geworden ist.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin CliniCum innere