16. Juni 2015

Verzerrte Evidenzlage in der Gesundheits-Berichterstattung

Wissenschaftler am Department für Evidenzbasierte Medizin und Klinische Epidemiologie der Donau-Universität Krems deckten in einer am 10. Juni präsentierten Einschätzung der Qualität der Gesundheitsberichterstattung auf, dass es um die Evidenzlage im österreichischen Gesundheitsjournalismus schlecht bestellt ist. Die Analyse ergab, dass in 59,5 % der Medienbeiträge zu 219 gesundheitsrelevanten Fragestellungen die Evidenz zu medizinischen Fragestellungen stark verzerrt dargestellt wurde. Lediglich 10,8 % der Gesundheitsjournalisten präsentierten die Evidenzlage in ihren Artikeln so, wie sie in den Studien vermittelt wurde.

medizin-transparent.at - Pressemeldungen unter die Lupe genommen
Knapp 60 Prozent von 990 beurteilten Beiträgen zu Gesundheitstehmen in österreichischen Print- und Online-Medien wurden als “stark verzerrt” bewertet.

 

Mitarbeiter um Gerald Gartlehner vom Department für Evidenzbasierte Medizin und Klinische Epidemiologie der Donau-Universität Krems bewerteten die Evidenzlage zu 219 gesundheitsrelevanten Fragestellungen, die in insgesamt 990 Beiträgen in österreichischen Print- und Online-Medien thematisiert worden waren.

Von Mai 2011 bis Juni 2014 wurde auf der Plattform Medizin-Transparent.at die Evidenzlage zu 231 gesundheitsbezogenen Fragestellungen erhoben, über welche österreichische Print- und Online-Medien zuvor berichtet hatten. Diese Fragestellungen dienten als Basis für die aktuell veröffentlichte Studie. Insgesamt wurden 1.253 journalistische Artikel zu 231 Fragestellungen gefunden, von denen 263 Artikel ausschieden. Schlussendlich wurden 990 Artikel zu 219 Fragestellungen unter die Lupe genommen.

Evidenzskala für die tatsächliche und in Medienbeiträgen implizierte Evidenz
Evidenzgrad Tatsächliche Evidenz (adaptierte Version von GRADE) Implizierte Evidenz in Medienbeiträgen
−3 Hoch, sicher kein Effekt. Es ist unwahrscheinlich, dass neue Studien die Einschätzung des Effekts verändern werden. Uneingeschränkt, kein Zweifel am Fehlen eines Effekts. Keine Erwähnung, dass die Evidenz für das Fehlen eines Effekts begrenzt ist oder dass Zweifel am Fehlen eines Effekts bestehen.
−2 Mittel, wahrscheinlich kein Effekt. Neue Studien werden möglicherweise aber einen wichtigen Einfluss auf die Einschätzung des Effekts haben. Wenig eingeschränkt, geringe Zweifel am Fehlen eines Effekts. Es wird erwähnt, dass die Evidenz für das Fehlen eines Effekts nicht völlig uneingeschränkt ist – man hat den Eindruck, dass neue Studien möglicherweise einen wichtigen Einfluss auf die Einschätzung des Effekts haben werden
−1 Niedrig, möglicherweise kein Effekt. Neue Studien werden mit Sicherheit einen wichtigen Einfluss auf die Einschätzung des Effekts haben. Eingeschränkt, deutliche Zweifel am Fehlen eines Effekts. Es wird erwähnt, dass die Evidenz für das Fehlen eines Effekts klar beschränkt ist – man hat den Eindruck, dass neue Studien mit Sicherheit einen wichtigen Einfluss auf die Einschätzung des Effekts haben werden
0 Unklarer Effekt. Die wissenschaftliche Beweislage ist unzureichend oder fehlend, um den Effekt einschätzen zu können. Nicht vorhanden, unklarer Effekt. Es wird klar erwähnt, dass es keine/ungenügend Evidenz für oder gegen einen Effekt gibt.
1 Niedrig, Effekt möglich. Neue Studien werden mit Sicherheit einen wichtigen Einfluss auf die Einschätzung des Effekts haben. Eingeschränkt, deutliche Zweifel an Effekt. Es wird erwähnt, dass die Evidenz klar beschränkt ist – man hat den Eindruck, dass neue Studien mit Sicherheit einen wichtigen Einfluss auf die Einschätzung des Effekts haben werden
2 Mittel, Effekt wahrscheinlich. Neue Studien werden möglicherweise aber einen wichtigen Einfluss auf die Einschätzung des Effekts haben. Wenig eingeschränkt, geringe Zweifel an Effekt. Es wird erwähnt, dass die Evidenz für einen Effekt nicht völlig uneingeschränkt ist – man hat den Eindruck, dass neue Studien möglicherweise einen wichtigen Einfluss auf die Einschätzung der Intervention haben werden.
3 Hoch, Effekt sicher. Es ist unwahrscheinlich, dass neue Studien die Einschätzung des Effekts verändern werden. Uneingeschränkt, kein Zweifel an Effekt. Keine Erwähnung, dass die Evidenz für einen Effekt begrenzt ist oder dass Zweifel am Effekt bestehen.

 

Verzerrung in der Berichterstattung

In welchem Ausmaß Medien verzerrt berichten, zeigt die Abweichung der im Medienbeitrag implizierten von der tatsächlichen Evidenzlage als Betrag der Differenz (siehe Abbildung), mit einer Spannweite von 0 bis 6. Eine Evidenz-Abweichung von 0 bedeutet, dass ein Medienbericht die Evidenzlage unverzerrt darstellt.

Grad der Verzerrung in der Berichterstattung

Die höchstmögliche Evidenz-Abweichung von 6 zeigt die größtmögliche Verzerrung auf: eine hohe implizierte Evidenz für einen Interventionseffekt (Grad 3) bei gleichzeitig real vorhandener hoher Evidenz dafür, dass kein Interventionseffekt vorhanden ist (Grad -3) oder umgekehrt. Als stark verzerrte Berichterstattung wurde eine Evidenz-Abweichung von ≥2 definiert. Dies entspricht zum Beispiel einer hohen implizierten Evidenz (Grad 3), wenn die tatsächliche Evidenzstärke lediglich niedrig ist (Grad 1), oder einer mittleren implizierten Evidenz (Grad 2), wenn die Evidenz in der Realität unklar ist (Grad 0). Eine leicht verzerrte Berichterstattung liegt unserer Definition demnach vor, wenn die Evidenz-Abweichung 1 beträgt.

61,3 % der Artikel suggerierten, dass der berichtete Effekt mit der höchsten Evidenzstufe abgesichert sei, was aber nur bei 2,6 % aller Artikel der Fall war (siehe Abbildung). In 44,4 % aller Artikel war die tatsächliche Evidenz unklar, doch nur 8,8 % aller Artikel implizierten dies auch.

Im Vergleich zur tatsächlichen Evidenzlage berichteten 59,5 % aller Artikel stark verzerrt, und nur bei 10,8 % der 990 Medienberichte entsprach die Aussage der tatsächlichen Studienlage. 29,7 % aller Berichte stellen die Evidenzlage leicht verzerrt dar.

Bernd Kerschner, Jörg Wipplinger, Irma Klerings, Gerald Gartlehner
Wie evidenzbasiert berichten Print- und Online-Medien in Österreich? Eine quantitative Analyse
Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen, Available online 10 June 2015, doi:10.1016/j.zefq.2015.05.014

 

Quelle: Department für Evidenzbasierte Medizin und Klinische Epidemiologie, Donauuni Krems