Frau M. hat keine Kontrolle über ihr Gesicht

Der Fall. „Ich halte das nicht mehr aus! Es müssen ja alle denken, ich bin verrückt“, begrüßt Sie Frau M. (50 J.) eine langjährige Patientin von Ihnen. „Seit einigen Tagen habe ich mein Gesicht nicht mehr unter Kontrolle. Vor allem mein Mund tut, was er will. Manchmal schnalze ich plötzlich mit der Zunge, ohne dass ich es verhindern kann. Oder ich schneide ganz seltsame Grimassen. Furchtbar! Sie müssen mir unbedingt helfen!“ Frau M. ist eine langjährige Patientin von Ihnen, daher wissen Sie auch um ihre Vorerkrankung der Schizophrenie. Sie war nun schon länger nicht bei Ihnen, da es ihr mit der neuen Medikation vom Neurologen sehr gut ging. Sie erfahren, dass Sie seit gut zwei Jahren mit Benperidol gut eingestellt ist. Klinisch zeigen sich keine weiteren Auffälligkeiten. RR 135/85, P 80, Temperatur: 37, 0 °C. Wie können Sie Frau M. helfen? (ärztemagazin 17/17)

„Die Behandlung mit dem Neuroleptikum ist zu überdenken“

Dr. Saba Harrach,
Psychiatrischer Konsiliardienst KFJ, FÄ f. Neurologie, Wahlärztin, Wien
Die beschriebenen orofazialen Dyskinesien sind unwillkürliche Bewegungen, die im Zusammenhang mit einer längeren Einnahme von typischen Neuroleptika als verzögerte Nebenwirkung auftreten können. Als disponierende Faktoren gelten höheres Alter, weibliches Geschlecht wie auch die Diagnose. Patienten mit einer schizoaffektiven Störung leiden häufiger unter der Einnahme von typischen Neuroleptika an tardiven Dyskinesien als Schizophrenie-Patienten. Am häufigsten zeigen sich dabei unwillkürliche, repetitive Bewegungen im Bereich Wange, Mund und Zunge. In diesem Fallbericht hat offenbar der Neurologe aufgrund von extrapyramidalen Symp­tomen (EPS) unter der Langzeiteinnahme eines Neuroleptikums die zusätzliche Einnahme von Biperiden empfohlen. Dies kann zwar zu einer Verbesserung der EPS führen, aber das Auftreten von Spätdyskinesien fördern.

Der Leidensdruck ist zumeist sehr hoch, da die unkontrollierbaren Bewegungsabläufe einen sehr befremdlichen Eindruck in der sozialen Interaktion hinterlassen. Daher ist der Wunsch nach einer raschen Besserung meistens drängend. Die Empfehlung bleibt daher, die grundsätzliche Behandlung der Schizophrenie mit dem jeweiligen Neuroleptikum zu überdenken und eine Umstellung auf Clozapin zu erwägen, wie auch Biperiden abzusetzen. Parallel dazu kann Tetrabenazin das Outcome verbessern. Wenn ein Patient nun eine bereits langfristige Stabilisierung bezüglich der schizophrenen Grunderkrankung erreicht hat, sollte die Umstellung nur in einem sehr engmaschigen Setting mit Unterstützung des Umfelds erfolgen. Ist der Patient/die Patientin nicht in der Lage, kurzfristige ambulante Termine in Anspruch zu nehmen, bzw. gibt es kein soziales Umfeld, das eine unmittelbare Verschlechterung bzw. das Wiederauftreten einer Psychose bemerken könnte, wäre die stationäre Aufnahme zwecks Umstellung indiziert.

„Die Schädigung durch Neuroleptika ist nicht mehr zu beseitigen“

Dr. Alfred Wassermair,
Arzt f. Allgemeinmedizin, Umweltschutzarzt, Tauchmedizin, Hypnotherapie, Aschach an der Donau, www.wassermair.at
Auf Grund der bekannten Vorgeschichte und der derzeitigen neuroleptischen Medikation mit Benperidol kann man mit Sicherheit eine Spätdyskinesie als Ursache der Symptome annehmen. Benperidol weist wie die anderen Arzneimittel aus der Gruppe der Butyrophenone vor allem eine starke Affinität zum D2-Rezeptor auf. Seine blockierende Wirkung auf die dopaminerge Übertragung in den Basalganglien ist so stark, dass bei einer Verabreichung von Benperidol extrem häufig Nebenwirkungen wie Dyskinesien auftreten. Benperidol gilt wegen seiner in aller Regel sehr ausgeprägten unerwünschten Wirkungen nur noch als Reservemittel der Schizophreniebehandlung, vor allem seitdem starke atypische Neuroleptika wie z.B. Olanzapin verfügbar sind. Die Problematik dieser Störungen ist, dass sie häufig irreversibel sind und auf Antagonisten wie Betablocker nicht ansprechen. Das ist wohl jetzt bei der Patientin zu befürchten.

Eine andere gefährliche Komplikation, das maligne neuroleptische Syndrom, ist eher durch Akinese und Rigor bzw. Hyperthermie und oft vielfältige vegetative Begleitsymptomatik gekennzeichnet und tritt eher am Beginn der Behandlung auf. Somit ist dieser potenziell lebensbedrohliche Verlauf nicht in Erwägung zu ziehen. Trotzdem besteht die erste Maßnahme in der sofortigen Beendigung der Medikation und wenn irgend möglich, nach Rücksprache mit dem Neurologen, die Umstellung auf eines der neueren atypischen Neuroleptika. Clozapin scheint derzeit die einzige Substanz zu sein, bei der es bis dato zu keinen Spätdyskinesien gekommen ist, hat aber auch seine Tücken. Es kann zu Agranulocytosen führen. Bei den übrigen atypischen Neuroleptika scheinen diese tardiven Dyskinesien seltener zu sein. Manifest gewordene Spätdyskinesien reagieren meist nur unzureichend auf Behandlungsversuche. Der Einfluss und die Schädigung durch die Neuroleptika selbst sind nicht mehr zu beseitigen. Medikamentöse Therapieoptionen gibt es in Form von Dopaminagonisten, die sonst bei Parkinson-Kranken eingesetzt werden, z.B. Lisurid oder Pergolid. Ferner verwendet man „bewegungsnormalisierende“ Substanzen wie Tiaprid, Tetrabenazin oder Tizanidin. Die Physiotherapie spielt eine wichtige Rolle bei der Linderung subjektiv belastender Beschwerden. Der Einsatz von Botulinustoxin kann erwogen werden.

„Differenzialdiagnostisch kommen M. Wilson oder M. Huntigton in Frage“

Dr. Julia Göd,
FÄ f. Psychiatrie und Psychotherapie, tätig im PSD 14, im Verein HEMAYAT, Wahlärztin, Wien
Vieles spricht dafür, dass Frau M. an tardiven Dyskinesien (TD) im Rahmen jahrelanger antipsychotischer Therapie leidet. Die Patienten sind sich dieser Bewegungen oft nicht bewusst, unsere Patientin im Fallbeispiel jedoch sehr wohl. Im Vergleich zu den Frühdyskinesien welche sich zu Beginn einer Behandlung entwickeln können, zählen TD als Spätkomplikation zu den schwerwiegendsten motorischen Nebenwirkungen von Antipsychotika, da sie auch nach Absetzen der Medikation persistieren und somit zu einer dauerhaften Behinderung führen können. Besonders Antipsychotika der ersten Generation sind bekannt für die Entwicklung von extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen. Benperidol gehört zu dieser Gruppe. Wobei unter Ha­loperidol das Risiko für EPS am höchsten ist. Jedoch auch die neue Generation der Antipsychotika, die sogenannten Atypika, sind wie alle Dopaminrezeptor-Antagonisten mit dieser Form der Nebenwirkungen vergesellschaftet. Clozapin und Quetiapin haben diesbezüglich noch das beste Nebenwirkungsprofil. CAVE: Auch das Antiemetikum Metoclopramid kann TD auslösen und sollte deshalb nur für wenige Tage verschrieben werden.
Wie sieht nun die Behandlung aus?

Wichtig ist primär, die richtige Diagnose zu stellen. Differentialdiagnostisch kommen Morbus Wilson und Morbus Huntington in Frage. Ersteres kann durch augenfachärztliche Abklärung und eine Harnuntersuchung ausgeschlossen werden (Kupfer im Harn, Kayser-Fleischer-Kornealring). Bei Morbus Huntington lassen sich typische motorische Muster erkennen, eine genetische Testung kann diese Diagnose sichern. In unserem Fall wissen wir um die seit Jahren bestehende antipsychotische Behandlung der Patientin. Aufgrund ihrer psychiatrischen Grunderkrankung kann ein Absetzen oder Reduzieren der antipsychotischen Therapie problematisch sein. CAVE: Das Absetzen kann die Bewegungsstörung sogar aggravieren. Eine Umstellung auf Antipsychotika mit niedrigerer D2-Rezeptoraffinität wie Quetiapin oder Clozapin könnte in unserem Beispiel zu einem deutlichen Rückgang der Beschwerden führen. Zur Behandlung der TD können zusätzlich Amantadin, ein NMDA-Rezeptorantagonist, Clonazepam (Cave: Toleranzentwicklung!), Ginkgo biloba angewendet werden. Tetrabenazin scheint eine wichtige Behandlungsoption darzustellen, allerdings überschreitet die Anwendung die Zulassung der Substanz (Off-Label usw). Diesbezüglich fehlen jedoch ausreichende Studienergebnisse.