Herr K. ist müde. Was sagt das Blut?

Der Fall. Herr K. (61 J.) kommt heute zur Blutbefundbesprechung im Rahmen einer Durchuntersuchung:  „Nun, wie sieht mein Blut aus? Hat sich ein Grund für die Müdigkeit gefunden?“ Bei der Untersuchung  letzte Woche hat er Ihnen erzählt, dass er seit ca. ½ Jahr an deutlicher Abgeschlagenheit und Müdigkeit  leide. Außerdem sei ihm aufgefallen, dass er in den letzten Wochen häufiger Zahnfleischbluten habe.  Cor: rein, rhythmisch, nf; Pulmo: VA bds, Abdomen: weich, kein Druckschmerz, keine Resistenzen, deutlich  tastbare Milz. Im BB zeigt sich eine deutliche Leukozytose (Linksverschiebung im Differentialblutbild)  sowie eine leichte Anämie. Gibt es Ihrer Meinung nach einen Grund für Herrn K.s Müdigkeit? Wenn  ja, welche Differentialdiagnosen haben Sie im Verdacht und wie geht es für Herrn K. weiter?  (ärztemagazin 15/17)

„Blutungsneigung und Anämie weisen auf ein hämatologisches Geschehen hin“

Dr. Rosa Aspalter,
Ärztin für Allgemeinmedizin, ÖÄK-Diplom Ernährungsmedizin, Wien
Ja, doch, Herr K.! Sie haben eine leichte Blutarmut, was alleine schon die Müdigkeit verursachen kann. Aber da sieht man noch etwas, was weiter abgeklärt werden sollte!“, antworte ich ihm. Ich erkläre ihm, dass bestimmte Zellen vermehrt sind und es dafür noch viele Gründe geben kann, ein Infekt etwa, aber auch eine chronische Leukämie. Ich rekapituliere seine Krankengeschichte. Häufige Infekte waren in letzter Zeit keine berichtet worden. Allerdings hatte er vor einem Jahr einen langwierigen viralen Infekt erlitten, von dem er sich nur sehr langsam erholte. Als gemeinsame Ursache für eine Leukozytose und Milzvergrößerung kommen außer einer chronisch myeloischen Leukämie (CML) noch virale Infekte, insbesondere eine EBV-Infektion in Frage.

Die Blutungsneigung (Zahnfleischbluten) und die leichte Anämie weisen allerdings bereits auf ein hämatologisches Geschehen hin. Hinweise für andere Ursachen für eine Leukozytose, wie bakterielle Infekte, finden sich grob klinisch nicht. Weitere Ursachen für eine Milzvergrößerung, wie etwa Pfortaderstauung, Amyloidose, Hämoglobinopathien sind weder anamnestisch zu begründen, noch gehen sie mit einer Leukozytose einher. Malaria kann auf Grund fehlender Auslandsaufenthalte ausgeschlossen werden. Autoimmun- und rheumatoide Prozesse hätte ich aber doch gerne ausgeschlossen. So erweitere ich mein Labor um Rheumafaktor, ANA-Screening und um eine EBV-Serologie, welche aber negativ ausfallen. Weiters ist eine Oberbauchsonographie erforderlich.

Diese bestätigt eine beträchtliche Splenomegalie mit ca. 17cm. Und natürlich wird Herr K. an eine hämatologische Abteilung zur weiteren diagnostischen Abklärung überwiesen, im Rahmen derer eine genetische Analyse auf das Vorliegen eines Philadelphia-Chromosoms sowie eine Knochenmarksbiopsie zu erwarten sind. Mittlerweile, zwei Monate später, hat sich die Verdachtsdiagnose einer Philadelphia-Chromosom-positiven CML bestätigt und der Patient ist unter Imatinib (Glivec) erfolgreich und ohne weitere Komplikationen auf rund 3.500 Leukozyten eingestellt.

„Am ehesten kommt eine chronisch myelotische Leukämie in Frage“

Univ.-Prof. Dr. Renate Heinz, 
FÄ für Innere Medizin, Zusatzfächer Hämatoonkologie, Blutgruppenserologie und Transfusionsmedizin, Humangenetik, Wien
Die Blutarmut und die Milzvergrößerung alarmieren die Hämatologin, die gerne das genaue Differentialblutbild gewusst hätte: Gibt es Blasten? Wie sieht die LDH, die Gerinnung aus …? Davon hängt die Dringlichkeit der Abklärung ab. Allerdings bin ich, sobald ich sage: „Ja Ihre Müdigkeit und das Zahnfleischbluten deuten auf eine Blut­erkrankung hin“, immer bestrebt, rasch abzuklären. Die meisten Patienten haben eine Vorahnung und denken an das Schlimmste: „Habe ich Leukämie?“

Die Aufklärung in der Ordination besteht in Angst nehmen: „Es gibt viele Formen von Leukämie und ich vermute, dass Sie eine sehr gut behandelbare Form haben. Nach meiner Erfahrung – und ich behandle seit 1975 Patienten mit Blutkrankheiten – denke ich, dass auf Grund des langsamen Verlaufs am ehesten eine chronisch myeloische Leukämie in Frage kommt. In den letzten Jahren hat die personalisierte Medizin – die Behandlung mit maßgeschneiderten Medikamenten – die Prognose entscheidend verbessert.“

Aber vor der Therapie kommt deshalb die exakte Diagnose. Da mo­lekulare Marker die Basis dieser neuen, gut verträglichen Therapieformen sind, ist die Überweisung an ein hämatologisches Zentrum indiziert. Nach telefonischer Voranmeldung besucht der Patient eine möglichst wohnortnahe hämatologische Ambulanz. Dort wird auch die Knochenmarkspunktion in Lokalanästhesie durchgeführt. Angst vor diesem Routineeingriff ist unnötig. Sollte sich meine Vermutung ­bewahrheiten, werden die sehr teuren neuen Medikamente verschrieben. Die Blutbildkontrollen mache ich gerne und auch für Fragen, die an sehr frequentierten Ambulanzen oft nicht gestellt werden, stehe ich zur Verfügung: Im Internet recherchierte Alternativen muss der behandelnde Arzt wissen – hier ist einfühlsames Zuhören wichtig –, oft um unnötige, ja möglicherweise sogar gefährliche komplementäre Maßnahmen zu vermeiden.

„CML ist mittlerweile mit guter Lebensqualität sehr erfolgreich behandelbar“

OA Dr. Alexander Kavina,
5. Med. Abt. Hämatologie, Onkologie und Palliativstation KH Hietzing, Wahlarzt, Wien
Bei herrn K. lassen die klinischen Symptome und die Veränderung von zwei Zellreihen der Hämatopoese den Verdacht auf eine hämatologische Systemerkrankung zu, v.a. in der Befundkonstellation mit der vergrößerten Milz. Differentialdiagnostisch wäre eine reaktive Leukozytose bei Infekten, Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises bzw. Kollagenosen möglich, Begleitwirkungen von Medikamenten, aber auch andere Ursachen für die Anämie zu überlegen (Coombs-positive hämolytische Anämie nach Infekt mit reaktiver Splenomegalie ist allerdings meist mit einer sehr ausgeprägten Form der Anämie verbunden und somit hier nicht zutreffend). Da sich bei Herrn K. eine ausgeprägte Linksverschiebung mit Anämie findet, ist die Müdigkeit hochwahrscheinlich dadurch bedingt. Eine Leukozytose mit Anämie, Splenomegalie und Veränderungen im Differentialblutbild, möglicherweise auch mit Thrombopenie, aber auch Trombozytose, lässt den primären Verdacht auf eine CML zu, zumal sich der Patient auch in der statistischen Altersverteilung befindet und die CML typischerweise eine sehr ausgeprägte Linksverschiebung vorweist.

Zur näheren Diagnosestellung sollte im Differentialblutbild die basophile Zellreihe der Leukozyten beachtet werden, meist findet sich bei einer CML eine absolute Basophilie, oftmals aber auch eine begleitende Eosinophilie. Als nächsten Schritt würde ich zum Beweis/Ausschluss der hämatologischen Systemerkrankung eine Knochenmarksbiopsie mit zytogenetischer und molekulargenetischer Untersuchung durchführen. Bei der CML lässt sich bei knapp über 90% aller Fälle das Philadelphia-Chromosom finden, eine Translokation zwischen Chromosom 9 und 22 mit Verkürzung von Chromosom 22: Dadurch kommt es zu einem entstehenden Fusionsgen, BCR-ABL, dieses führt zur konstitutiven Aktivierung der Tyrosinkinase, welches für die onkogene Transformation der betroffenen hämatopoetischen Stammzelle verantwortlich ist und zur Proliferation führt.

Ist die Diagnose über die Knochenmarksbiopsie, welche ich auch als sanfte Beckenkammbiopsie in Sedoanalgesie durchführe, und Zyto-/Molekulargenetische Untersuchung gesichert, erfolgt eine orale Therapie mit einem Tyrosinkinaseinhibitor. Neueste Studien zeigen unter dieser Therapieform sehr häufig komplette Remissionsraten, sogar persistierend nach Absetzen der Therapie, sodass diese ehemals letale Krankheit mittlerweile mit güns­tigem Nebenwirkungsprofil und guter Lebensqualität sehr erfolgreich behandelbar ist.

Autoren: Dr. Rosa Aspalter, Univ.-Prof. Dr. Renate Heinz, OA Dr. Alexander Kavina