Droht der nächste „Pill Scare“?
Hormonelle Kontrazeptiva, allen voran Levonorgestrel-haltige IUDs, stehen zunehmend im Kreuzfeuer der Kritik. Was ist wirklich dran und welche Folgen könnte der aktuelle Diskurs nach sich ziehen? (Medical Tribune 25/2017)
Im Oktober 1995 machten Gestagene der dritten Generation Negativschlagzeilen: Eine Studie hatte gezeigt, dass unter Einnahme von Gestoden- und Desogestrel-haltigen kombinierten oralen Kontrazeptiva ein doppelt so hohes Thromboserisiko besteht wie unter älteren Pillen. Für das UK Committee on Safety of Medicines war das Anlass, ein Warnschreiben an 190.000 Ärzte in ganz Großbritannien zu versenden. Daraufhin machte die Nachricht wie ein Lauffeuer die Runde und wurde im Mutterland der Yellow Press auch medial entsprechend aufgebauscht. „Deadly risk by pill used by 1 million women“ titelte die Daily Mail gar. Unter Frauen im gebärfähigen Alter breitete sich große Verunsicherung aus. Skepsis und Ablehnung gegenüber den entsprechenden Pillen und hormonellen Kontrazeptiva im Allgemeinen stiegen sprunghaft an: ein Ereignis, das als „Pill Scare“ in die Medizingeschichte einging.
Was in dem ganzen Trubel, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, völlig unterging: So dramatisch die in der Studie gezeigte relative Risikoerhöhung auch war, so unspektakulär waren die absoluten Zahlen: Unter Einnahme von Kombinationspillen mit Gestagenen der zweiten Generation erlitt 1 von 7000 Frauen eine Venenthrombose, unter Desogestrel- und Gestoden-haltigen Präparaten waren es 2 von 7000.
Weitaus dramatischer entwickelten sich allerdings bald darauf ganz andere Zahlen: nämlich die Abtreibungsraten. Nachdem diese in den vorangegangenen Jahren kontinuierlich zurückgingen, stiegen sie nach dem „Pill Scare“ im Vereinigten Königreich plötzlich wieder sprunghaft an: 1996 gab es in Großbrittanien 13.601 Schwangerschaftsabbrüche mehr als im Jahr zuvor, das entspricht einer Steigerung von acht Prozent1.
Nach der Pillenangst kommt die Spiralenangst
Die Aufregung um die Gestagene der dritten Generation ist mittlerweile zwar abgeflaut, die Skepsis gegenüber hormoneller Kontrazeption scheint allerdings größer denn je zu sein. Heute, drei Jahre vor dem 60. Geburtstag der Pille, stehen besonders Levonorgestrel-haltige Hormonspiralen (Intrauterine Devices, IUDs) im Kreuzfeuer die Kritik. Anlass für die Aufregung ist eine kürzlich im Fachjournal „Psychoneuroendocrinology“ veröffentlichte Studie2, die die Spiralen mit Depressionen, Angststörungen und Unruhezuständen in Verbindung bringt. Auch das Pharmacovigilance Risk Assessment Committee (PRAC) der EMA prüft derzeit, ob ein Zusammenhang zwischen Levonorgestrel und psychischen Erkrankungen bestehen könnte. Das deutsche Wochenmagazin „Der Spiegel“ hat daraufhin einen großen Beitrag über Frauen veröffentlicht, die unter der Anwendung einer Hormonspirale in schwere Depressionen und Angstzustände gestürzt waren und stellte in diesem Zusammenhang sogar die Frage, ob die Herstellerfirma Nebenwirkungen verharmlose, um ein „Milliardengeschäft“ nicht zu gefährden.
Für Dr. Christian Fiala, Leiter des Wiener Gynmed-Ambulatoriums, ist der aktuelle Diskurs „ein totales Drama“. Einerseits könne er aus erster Hand berichten, dass die Nachfrage nach Schwangerschaftsabbrüchen nach wie vor hoch sei, gleichzeitig bestehe allerdings auch große Skepsis gegenüber hormonellen Kontrazeptiva: „Inzwischen sagt jede zweite Frau, die zum Schwangerschaftsabbruch kommt, dass sie danach ohne Hormone verhüten möchte.“ Auch Univ.-Prof. Dr. Bettina Toth, Direktorin der Universitätsklinik für Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin, UniKlinik Innsbruck, konstatiert: „Jeder Artikel, der eine Hormongabe infrage stellt, sei es in Form oraler Kontrazeptiva, einer Hormonspirale oder des Hormonstäbchens, fällt angesichts der derzeit sehr ausgesprägten Hormonangst in der Bevölkerung auf fruchtbaren Boden.“
Natürlich wären 15 Schwangerschaften
Fiala kann den aktuellen Medienrummel nicht nachvollziehen: „Die Hormonangst und Hormonhysterie, die derzeit geschürt wird, ist eine Katastrophe, weil sie Angst vor etwas schürt, wo es keine Angst geben muss.“ Er bezeichnet es als „Drama“, dass „ein sehr gutes Verhütungsmittel verteufelt wird, ohne dass es eine konstruktive Alternative gibt“. Für ihn ist hormonfreie Verhütung „schon vom Ansatz her nicht zielführend“. Wollten Frauen ihrem Eierstock vermitteln, dass sie nur ein- bis zweimal in ihrem Leben und nicht, wie von der Natur vorgesehen, 15 Mal, schwanger werden, müssten sie sich der „Sprache des Körpers“ bedienen – und das seien nun einmal die Hormone.
Für Fiala, der sich selbst als „Unfallexperte für Verhütungsunfälle“ bezeichnet, führt daher an hormonellen Langzeitkontrazeptiva kein Weg vorbei: „Dadurch, dass wir Schwangerschaftsabbrüche durchführen, sehen wir, wann die Verhütung fehlschlägt.“ Besonders die Levonorgestrel-haltigen IUDs hielten diesem „Reality Check“ sehr gut stand, so Fiala, denn: „Wir sehen praktisch keine Frau zum Schwangerschaftsabbruch, die eine Hormonspirale hat.“ Das spreche für ihn dafür, dass das Device „nicht nur in klinischen Studien, sondern auch im realen Leben extrem gut vor ungewollten Schwangerschaften schützt“. Der Hype um hormonfreie Verhütung führe dagegen „zu unnötig vielen ungewollten Schwangerschaften und damit unnötig vielen Schwangerschaftsabbrüchen“.
An der Studie aus Psychoneuroendocrinology äußert Fiala scharfe Kritik: „Die ist auf vielen Ebenen schlecht gemacht, und wenn man lange genug nach möglichen Korrelationen sucht, dann findet man auch irgendwann welche.“ Zudem sei die Anzahl der untersuchten Frauen mit 15 bis 25 pro Subgruppe ziemlich überschaubar. Dass sich aus den Ergebnissen kein Kausalzusammenhang zwischen Hormonspirale und Depressionen oder Angstzuständen ableiten lässt, steht auch für Toth, die Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologische Endokrinologie und Fortpflanzungsmedizin (DGGEF) ist, außer Zweifel: „Stimmungsschwankungen et cetera wurden nicht im Vorfeld ausgeschlossen. Außerdem hat man sich nur die adrenale Achse angeschaut und keine anderen Hormone wie Östrogen oder Schilddrüsenhormone. Die Autoren schreiben selbst explizit, dass man aus den Ergebnissen nicht auf einen Zusammenhang zwischen der Hormonspirale und emotionaler Labilität schließen kann.“
Eine Einschätzung, die sich auch in einer aktuellen Stellungnahme der DGGEF wiederfindet. Darin heißt es: „Die in der Psychoneuroendocrinology erschienene Publikation weist auf eine veränderte systemische physiologische Stressantwort bei Trägerinnen Levonorgestrel-haltiger Spiralen hin. Die Autoren weisen in ihrer Diskussion darauf hin, dass ihre Studie nicht eine Assoziation zu Stimmungsschwankungen und emotionaler Labilität erlaubt.“ Laut DGGEF gelte es derzeit abzuwarten, zu welchen Ergebnissen die EMA in ihrer Untersuchung gelangt. Letztlich bleibe die Wahl der richtigen Verhütung eine Einzellfallentscheidung, so Toth. Verzicht auf künstliche Hormone ist auch kein Garant für psychische Stabilität und Erhalt der Libido, denn, so Toth: „Eine Frau kann auch weniger Lust haben, weil sie nicht sicher verhütet.“
Referenzen:
1 Human Reproduction Update 1999, Vol. 5, No. 6 pp. 621–626
2 DOI: 10.1016/j.psyneuen.2017.02.025