9. Mai 2017

Der Placebo-Effekt funktioniert auch unverblindet

Der Placebo-Effekt zählt zu den großen Rätseln der Medizin. Er ist bei bestimmten Krankheiten ausgeprägter als bei anderen, er ­beschränkt sich keineswegs auf subjektive Parameter, und er tritt Studien zufolge auch ein, wenn die Probanden wissen, dass sie Placebo bekommen. (Medical Tribune 18/2017)

Placebo wirkt. Dieser schlichte Sachverhalt wurde bereits in zahlreichen Studien und in sehr unterschiedlichen Indikationen untersucht und nachgewiesen. Für die Pulmologie gelangte eine vor rund zehn Jahren publizierte Arbeit zu dem Schluss: „Ein objektiver Placebo-Effekt in der Indikation Asthma existiert. Die klinischen Effekte von Placebo sind von signifikanter Größe und klinisch bedeutsam. Der Placebo-Effekt wurde nicht durch Änderungen im Verhalten moduliert.“1

Wird das Verum durch ein ähnlich aussehendes oder schmeckendes Placebo ersetzt, tritt eine besonders deutliche Placebo-Wirkung ein.
Wird das Verum durch ein ähnlich aussehendes
oder schmeckendes Placebo ersetzt, tritt eine
besonders deutliche Placebo-Wirkung ein.

Prof. Dr. Robert Jütte, Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung, Stuttgart, verweist auf eine Studie aus dem Jahr 2011: „Amerikanische Forscher verglichen in einer doppelblinden Cross­over-Pilotstudie die Wirkung eines Bronchodilatators mit zwei Placebo-Interventionen und keiner Intervention. Alle drei Interventionen unterschieden sich hinsichtlich einer subjektiven Verbesserung nicht: Das Albuterol verbesserte das Allgemeinbefinden um 50 Prozent, das Placebo um 45 Prozent und die Scheinakupunktur um 46 Prozent. Dagegen gaben jene, die keine Intervention erhalten hatten, eine Verbesserung von lediglich 21 Prozent an. Der Unterschied war signifikant.“2 Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine deutsche Arbeit zur sublingualen Immuntherapie (SLIT), die einen so deutlichen Placebo-Effekt fand, dass die SLIT nur bei Kindern mit sehr ausgeprägter Symptomatik dem Placebo überlegen war und dieser Vorteil auch erst nach drei Jahren relevant wurde.3

Einheitliche Placebo-­Definitionen fehlen

Placebo kann vieles sein. Einheitliche Definitionen fehlen. Neben den klassischen Placebo-Medikamenten (Milchzucker, Kochsalzlösung) können auch Prozeduren wie zum Beispiel die Scheinakupunktur einen Placebo-Effekt ausüben. Jütte weist allerdings auch auf erweiterte Placebo-Definitionen hin. Diese betreffen den Einfluss des Behandlungsumfeldes, die Erwartungen des Patienten und des Arztes sowie die Arzt-Patienten-Interaktion.

Jütte: „Schockierend für die Chirurgen waren Studien, in denen nachgewiesen wurde, dass bei häufigen Eingriffen, im konkreten Fall einer Arthroskopie, die Scheinoperation genauso wirksam ist wie der echte Eingriff.4 Dieser Effekt hielt auch zwei Jahre nach dem Eingriff noch an. Ebenfalls nicht erfreut waren Akupunkteure über Studien, die zeigten, dass Akupunktur beispielsweise bei Knie und Rückenschmerz zwar besser wirkt als Krankengymnastik, dass es aber egal ist, wohin man sticht. Auch in den Indikationen Kopfschmerz und Migräne waren echte Akupunktur und Scheinakupunktur in der Wirksamkeit vergleichbar oder zumindest annähernd vergleichbar.“

Dabei darf die Placebo-Wirkung keinesfalls als Einbildung eingestuft werden. In vielen Fällen konnten mit Placebo sehr reale körperliche Effekte erreicht und mit moderner Messtechnik objektiviert werden. Den Placebo-Effekt im Gehirn zu verorten, ist naheliegend. Jütte: „Lange Zeit war der Placebo-Effekt der Wissenschaft unangenehm. Man hat versucht, Patienten, die auf Placebo ansprechen, mit soziologischen und psychologischen Methoden zu identifizieren und wollte sie aus den Studien ausschließen. Das hat nicht funktioniert. Einen Durchbruch in der Placebo-Forschung brachte schließlich die funktionelle MRT, mit der es möglich wurde, den Placebo-Effekt im Gehirn darzustellen und zu untersuchen.“

Die Ergebnisse dieser Studien fasst der Medizinhistoriker so zusammen: Placebos führen nachweislich zu einer erhöhten Endorphinausschüttung bei Schmerzen, die die Schmerzempfindlichkeit herabsetzt. Placebos erhöhen die Aktivität im präfrontalen Cortex. Placebos erhöhen auch die Dopaminausschüttung und sind daher bei Depression und Morbus Parkinson besonders gut wirksam. Nicht zuletzt aktivieren Placebos ähnliche Hirnregionen wie „echte“ Schmerzmedikamente.

Suche nach dem Mechanismus

Allerdings ist die Visualisierung eines Effektes noch keine Erklärung. Auf der Suche nach Mechanismen des Placebo-Effekts werden einerseits assoziative und andererseits mentalistische Ansätze verfolgt, während der assoziative Ansatz von klassischer Konditionierung ausgeht. Tatsächlich konnte in Studien gezeigt werden, dass sich Probanden auf einen bestimmten Effekt konditionieren lassen. Wird das Verum nach einer bestimmten Zeit durch ein ähnlich aussehendes oder schmeckendes Placebo ersetzt, tritt eine besonders deutliche Placebo-Wirkung ein. Jütte: „Ich bin überzeugt, dass diese Mechanismen im Sport bereits im Zusammenhang mit Doping genützt werden.“ Im Gegensatz dazu stellt der mentalistische Ansatz den Wunsch des Patienten nach Heilung in den Mittelpunkt.

Effekt nur bei bestimmten Erkrankungen

Interessanterweise ist der Placebo-Effekt bei manchen Erkrankungen sehr deutlich ausgeprägt, bei anderen jedoch kaum vorhanden. So sprechen COPD, Lungenhochdruck und Osteoporose so gut wie nicht auf Placebo an. Im Gegensatz dazu sprechen arterielle Hypertonie, partielle Epilepsie, rheumatoide Arthritis und M. Parkinson sehr gut auf Placebo an. Wobei man den Placebo-Effekt nicht im „Psychischen“ verorten sollte. Jütte: „Erkrankungen, in denen überwiegend subjektive wie auch patientenbeeinflusste Parameter als Endpunkte für eine Wirksamkeitsbestimmung erhoben wurden, weisen – im Unterschied zur bislang herrschenden Meinung in der Placebo-Literatur – keinen größeren Effekt unter Placebo-Behandlung auf als Erkrankungen, bei denen die Wirksamkeit anhand objektiver Parameter beurteilt wurde.“

So bleibt der Einsatz von Placebo in der klinischen Praxis vor allem ein ethisches Problem. Er sei, so Jütte, gerechtfertigt, wenn es sich um ein relativ harmloses Leiden handelt, es keine wirksame Therapie gibt, ein ausdrücklicher Wunsch nach Behandlung besteht und die Placebo-Behandlung Aussicht auf Erfolg hat. Vor allem sei es jedoch geboten, den Patienten aufzuklären. Wider Erwarten zerstöre dies die Placebo-Wirkung nicht. So zeigt eine Studie an Reizdarm-Patienten, dass die offene Placebo-Gabe die Wirkung des Placebos nicht beeinträchtigt.5

Referenzen:
1 Kemeny ME et al. Placebo response in asth­­ma: a robust and objective phenomenon.
J Allergy Clin Immunol. 2007 Jun; 119(6): 1375–81
2 Wechsler ME et al. Active albuterol or placebo, sham acupuncture, or no intervention in asthma. N Engl J Med. 2011 Jul 14; 365(2): 119–26
3 Bufe A et al., Allergy 2004 May; 59(5): 498–504
4 Moseley JB et al., N Engl J Med 2002 Jul 11; 347(2): 81–8
5 Kaptchuk TJ et al., PLoS One 2010 Dec 22; 5(12): e15591

Quelle: 58. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP); Stuttgart, März 2017

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune