29. Apr. 2017

Dr. Stelzl: Hausarzt kann durch nichts ersetzt werden!

Vor mir sitzt Frau R., völlig fertig und in Tränen aufgelöst. Sie und ihr Mann sind nun seit fast fünfzehn Jahren meine Patienten. Sie waren schon seit Anfang meiner Wahlarztzeit dabei. Irre, wie die Zeit vergeht. Ich merke das auch, wenn einige der Kinder, deren Windeldermatitis ich damals behandelt habe, wieder in meine Ordination kommen. Jetzt sind sie zwanzig Zentimeter größer als ich und ich muss „Sie“ zu ihnen sagen. Ich will jetzt nicht darüber nachdenken, wie sehr und wie schnell ich altere, sonst werde ich noch frustriert. Ich will damit nur zeigen, was für eine Art Job das ist, Hausarzt zu sein.

Natürlich gibt es punktuelle Kontakte auch. Menschen, die man einmal sieht und nie wieder. Entweder, weil man halt zufällig als Vertretung greifbar war, oder weil sie die nächsten zehn Jahre gesund geblieben waren oder auch, weil sie weitergezogen sind. Und den einen oder anderen sieht man auch nicht wieder, weil die Chemie einfach so gar nicht gestimmt hat. Seinen Zahnarzt muss man nicht mögen, auch wenn’s nicht schadet. Aber ein Hausarzt ohne Vertrauens- und Gesprächsbasis, das kann nicht wirklich funktionieren. Denn vieles, was der Hausarzt tut, kann man delegieren, vieles kann auch von einem anderen erledigt werden, aber je nach Persönlichkeit und Bedürfnis bleibt ein mehr oder weniger großer Bereich, der nicht austauschbar ist. Ein Bereich im Leben, der dem Hausarzt oder der Hausärztin gehört. Und der lässt sich leider nicht wegrationalisieren, austauschen, evidenzbasieren und besser ökonomisieren. Auch wenn die Planer und Verantwortlichen in unserem Gesundheitswesen nichts davon hören möchten.

Na, jedenfalls zurück zu Frau R. Als ich das Paar kennengelernt habe, waren beide noch im Berufsleben, hatten nur kleine Wehwehchen und das Hauptproblem war gesunde Ernährung, Gewichtsabnahme und ein Trainingsplan. Und wie man es auch mit über fünfzig noch schafft, vier oder fünf Mal in der Woche tanzen zu gehen, ohne dass die Gelenke dagegen protestieren. Dazu kam gelegentlich der eine oder andere Schnupfen, aber nichts Gravierendes. Frau R. flog auch immer wieder zu Freunden nach Südostasien, während er lieber in heimischen Gefilden wandern ging. In den letzten Jahren hat sich die Situation verändert. Herr R. ist langsam chronisch krank geworden. Und seit zirka einem Jahr kommt auch eine immer schlimmer werdende Demenz dazu. Natürlich ist Frau R. mit den Nerven fertig. Ihr Leben hat sich massiv verändert und eingeschränkt. Und ihre Beziehung noch mehr. Er ist wie so oft begleitend zur Demenz aggressiv und depressiv. Das Zusammenleben ist sehr schwer geworden.

L wie Lebensläufe

Und damit es noch schwerer für die arme Frau wird, müssen sie jetzt auch noch umziehen. Ursprünglich aus Deutschland stammend müssen sie aus organisatorischen und finanziellen Gründen jetzt wieder zurück nach München. Sie haben zwar eine Wohnung dort und noch Bekannte und ein paar uralte Freunde. Aber lustig ist das Ganze trotzdem nicht für sie. Zum Siedeln und Organisieren kommt jetzt noch das medizinische Problem dazu. „Wissen Sie, Frau Doktor, ich gehe immer wieder zu meinem alten Hausarzt, wenn ich mal in München bin. Aber der ist mittlerweile mit fünf anderen zusammen in so einem Gesundheitszentrum. Da weiß man nie, an wen man kommt. Es ist ja auch wurscht, wenn es nur um meine monatliche Injektion geht. Denn die Spritze kann einem ja irgendwer geben.“ Sie seufzt. „Aber man hat niemanden zum Reden. Keiner kennt einen und fühlt sich zuständig. Außerdem haben die alle keine Zeit!“ Dann sieht sie mich an und sagt: „Sie haben auch keine Zeit, aber Sie nehmen sich die!“

Was für ein tolles Feedback für mich. Die Patientin merkt genau, dass es mich sehr oft vor lauter Stress fast „überwutzelt“, weiß aber, dass ich da bin für sie, wenn sie mich braucht. Genau so möchte ich rüberkommen. Heute bin ich aber wirklich ratlos. Ich weiß einfach nicht, wie das deutsche Gesundheitssystem organisiert ist. Ich habe keine Ahnung, wie das Paar dort schnellstmöglich zu einem Facharzt für Neurologie kommt. Ich weiß nicht, ob es so was wie Pflegegeld gibt und wie man eine Hauskrankenpflege oder Sozialarbeiter findet. Keine Ahnung. Hier bei uns könnte ich den beiden alles organisieren. Ich könnte Frau R. zur Gratis-Angehörigenberatung schicken. Schließlich muss ein Haufen praktischer Fragen vom Finanziellen über eine mögliche Besachwaltung geklärt werden.

Sie braucht Hilfe bei der Organisation des Alltags. Ich würde ihr die Telefonnummer der Hauskrankenpflege und einige Kontakte für 24-Stunden-Pflege geben. Dazu ganz dringend eine gute Therapeutin empfehlen, denn abgesehen von meiner Zeit braucht sie noch einen Profi, um sich das Elend von der Seele zu kotzen. Aber das würde ich halt als Hausärztin hier bei uns mit ihr und für sie tun. Und das ist jetzt innerhalb kurzer Zeit schon wieder eine Patientin, die Gesundheitszentren aus dem Ausland kennt und unsere Hausarztsystem für so viel besser befindet. Heute kann ich nichts mehr für sie tun. Also halte ich sie ein bisschen fest, während sie weint, und würde am liebsten auch ein wenig mitheulen.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune