EAU 2017: Oxybutynin wird nach vor zu oft verschrieben
In der Behandlung der überaktiven Blase werden antimuskarinische Substanzen erfolgreich eingesetzt. Darunter auch das billige und schlecht verträgliche Oxybutynin – und das viel zu häufig, wie Daten aus den USA zeigen. Experten der EAU sehen in Europa ähnliche Probleme.
Die verfügbaren Antimuskarinika sind alle in etwa gleich wirksam, unterscheiden sich jedoch im Hinblick auf ihr Nebenwirkungsprofil. Für das kostengünstige und daher auch in Europa nach wie vor vielverschriebene Oxybutynin wurden im Rahmen des EAU Kongresses 2017 unerfreuliche Daten aus den USA präsentiert. Eine Datenbank-Analyse zeigte, dass orales Oxybutynin nach wie vor auch bei älteren Patienten häufig eingesetzt wird – obwohl es mit kognitiver Einschränkung und Demenz assoziiert ist (1). Der Studie zufolge werden in den USA nach wie vor rund ein Viertel der OAB-Patienten mit oralem Oxybutynin behandelt.
Die Studie wurden von einer internationalen Gruppe unter der Leitung von Dr. Daniel Pucheril vom Vattikuti Urology Insitute am Henry Ford Hospital in Detroit auf Basis des National Ambulatory Medical Care Survey erstellt. Die Autoren identifizierten 1.968 Patienten, die mit Antimuskarinika behandelt wurden. Aus dieser Gruppe erhielten 27 Prozent orales Oxybutynin. Wobei zu allem Überfluss noch schlampig verschrieben wurde. Die von der FDA bei Oxybutynin-Verschreibung vorgesehene initiale neurologische Abklärung samt des ebenfalls indizierten Monitorings von Nebenwirkungen erfolgten lediglich bei neun Prozent der Patienten.
Dazu Studienautor Pucheril: „Unsere Arbeit behandelt ein repräsentatives Sample. Wenn man die Daten auf die gesamten USA extrapoliert, erhält man erschreckende Zahlen. In den sechs Jahren, die unsere Analyse abdeckt, haben rund 47 Millionen Menschen in den USA Antimuskarinika erhalten, mehr als die Hälfte davon dürften älter als 65 sein.“ Damit wurde mehreren Millionen älterer Menschen ein Medikament verschrieben, dass diese nicht oder nur unter bestimmten Vorsichtsmaßahmen einnehmen sollten. Dr. Pucheril: „Wir sagen nicht, dass alle, die Oxybutinin nehmen, sofort damit aufhören sollten. Manche Menschen vertragen das Medikament gut und man sollte es in keinem Fall eigenmächtig absetzen. Allerdings sind wir erstaunt, wie leichtfertig diese Substanz offenbar verschrieben wird. Und wir würden uns von den Versicherungen auch eine geänderte Erstattungspraxis wünschen. Viele Ärzte haben keine Wahl, weil andere Antimuskarinika nicht erstattet werden. Sie sollten dringend die Verschreibung von Substanzen erleichtern, die keine oder weniger kognitive Beeinträchtigung verursachen.“
Das sieht man auch in Europa so. Für die EAU kommentierte Univ.-Prof. Dr. Helmut Madersbacher von der Medizin Universität Innsbruck die Studie mit den Worten: „Diese Arbeit aus den USA lenkt die Aufmerksamkeit auf ein Problem, mit dem wir auch in Europa konfrontiert sind. In Ländern, wo eine breitere Palette an Antimuskarinika verfügbar ist, wie beispielsweise in Österreich, Deutschland und der Schweiz, liegt der Anteil der Oxybutinin-Verschreibungen bei lediglich fünf bis sieben Prozent. Und das aus vielen guten Gründen. In anderen Ländern wie zum Beispiel Italien, ist Oxybutinin das einzige Antimuskarinikum, das von den Kassen erstattet wird. Damit entfallen in manchen Regionen mehr als 70 Prozent der Antimuskarinika-Verschreibungen auf Oxybutinin.
Prof. Dr. Andrea Tubaro von der Sapienza Università in Rom kennt das Problem: „In Italien kostet generisches Oxybutinin rund fünf Euro im Monat. Andere Antimuskarinika oder ein Beta-3-Agonist kosten den Patienten rund 50 Euro im Monat. Das können sich nicht alle älteren Menschen leisten. Insgesamt ist die Rechnung natürlich auch aus ökonomischer Sicht völlig unsinnig. Man spart ein paar Euro und riskiert, dass die Patienten eine Demenz und damit eine der teuersten Krankheiten überhaupt entwickeln. Das ist die besondere italienische Situation – aber es gibt in vielen Ländern vergleichbare Probleme mit Antimuskarinika und anderen Medikamenten.
- Gray SL et al. Cumulative use of strong anticholinergics and incident dementia: a prospective cohort study. JAMA Intern Med. 2015 Mar;175(3):401-7
Quelle:
EAU 2017, Abstract: Meyer C. et al. Antimuscarinic use in the elderly: A poisoned apple