Für MSF in Nigeria: „Ein Tropfen auf den heißen Stein“
Die Wiener Gynäkologin Dr. Antonia Rau arbeitete sechs Wochen in einer Geburtenstation im afrikanischen Staat Nigeria. An der Tagesordung: Medizinische Notfälle, die in Österreich durch die gute Schwangerenbetreuung kaum noch vorkommen. (Medical Tribune 10/2017)
Dr. Antonia Rau ist Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe im Wiener Krankenhaus Hietzing. Ende 2015 war Rau für eineinhalb Monate für die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ in Nigeria. Für MT lässt die engagierte Ärztin ihren Auslandseinsatz noch einmal Revue passieren. Raus Einsatzgebiet lag im Norden des Landes: die Stadt Jahun im nigerianischen Bundesstaat Jigawa. Hier, am südlichen Rand der Sahelzone, leben die Menschen zum Großteil in Lehmhütten, in Dörfern mit einem Brunnen. In der Geburtenklinik, die seit 2008 von Ärzte ohne Grenzen betrieben wird, werden ausschließlich Risiko-Schwangerschaften behandelt: „Alle anderen Frauen in der Umgebung bringen ihre Kinder traditionell zu Hause zur Welt“, schildert Rau.
1000 Patientinnen und 700 Geburten – pro Monat!
Die Region ist so wie viele andere des afrikanischen Kontinents von einer hohen Mütter- und Säuglingssterblichkeit gekennzeichnet: Bis zu 1000 Patientinnen werden in der Klinik aufgenommen – pro Monat. Davon werden rund 700 Frauen bei Geburten betreut, so Rau: „Das ist eine Zahl, mit der ein durchschnittliches Krankenhaus in Österreich ungefähr pro Jahr zu tun hat!“ Die hohe Frequenz erklärt sich aus der Tradition. Die Familien sind kinderreich, jede Frau bringt statistisch 6,2 Kinder zu Welt: „Mädchen werden noch vor der ersten Menstruation verheiratet – alles andere würde als Schande für die jungen Frauen gelten.“ Die 45 Betten der Station reichen schon lange nicht mehr, in jedem Bett liegen zwei bis drei Frauen.
Mit der Unterstützung einer routinierten Gynäkologin aus Indien hatte Rau alle Hände voll zu tun: Kaiserschnitte, kindliche Fehlbildungen, Unterernährung, Anämie durch Tropenkrankheiten wie Malaria – und sämtliche Schwangerschaftskomplikationen, die in Österreich aufgrund der fortgeschrittenen medizinischen Versorgung großteils nicht mehr oder sehr, sehr selten auftreten: „Ich habe nicht nur eine Frau im Wochenbett elendiglich an Tetanus sterben sehen.“ Wenn man so etwas erlebt hat, fällt es doppelt schwer, die regelmäßige Diskussion um die Notwendigkeit von Impfungen nachzuvollziehen, sagt Rau: „Da kann ich schon ein wenig grantig werden!“
Genaue Leitlinien erleichtern die Arbeit
Auch keine Seltenheit auf der Geburtenstation: Amnioninfektionen oder sogar mazerierte Feten: „Wir haben viele Eingriffe durchgeführt, die man seit Langem in keinem medizinischen Lehrbuch mehr findet.“ Zur Diagnose standen vier Schnelltests für Syphilis, HIV, Malaria und den Hämoglobinwert sowie ein einfaches Ultraschallgerät zur Verfügung: „Ohne Röntgen und Computertomographie lernt man als Ärztin wieder sehr schnell, all seine Sinne und die Hände zur Diagnose einzusetzen.“ Dennoch bleiben die Eingriffe standardisiert: Es gibt genaue Leitlinien für die Ärzte vor Ort – auf gute hygienische Voraussetzungen wird großer Wert gelegt, betont Rau: „Anders würde die Arbeit unter diesen Bedingungen auch nicht funktionieren.“
Täglich gleich mehrere Menschenleben zu retten wird in einer solchen Umgebung schnell zur Routine, macht aber umso demütiger und dankbarer, wie Rau betont: „Ich weiß, gesamt gesehen war mein Einsatz dort nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Solange sich an den Möglichkeiten zur Bildung und Verhütung für Frauen nichts ändert, wird sich auch im Gesundheitswesen nicht viel bewegen.“ Nichtsdestotrotz entschädigt jedes einzelne gesund auf die Welt gekommene Neugeborene für die Strapazen, welche die Ärzte in Jahun auf sich nehmen. Sie sorgen täglich für mehrere Wunder, die bei uns schon lange Selbstverständlichkeit geworden sind, so Rau: „Ich erinnere mich noch immer gerne an den engen Zusammenhalt in einem internationalen, interdisziplinären Team. Das hat mir sehr geholfen mit diesen Extremsituationen umzugehen.“
12 Ärzte aus 8 Ländern in Jahun im Einsatz
Der Einsatzort von Dr. Antonia Rau für „Ärzte ohne Grenzen“ war die Stadt Jahun im nigerianischen Bundesstaat Jigawa, im Norden des Landes, am südlichen Rand der Sahelzone. In Jahun leben rund 229.000 Menschen. Die Lebenserwartung beträgt durchschnittlich 52 Jahre, jede Frau bringt statistisch 6,2 Kinder zur Welt. 60 Prozent der Bevölkerung leben von der Landwirtschaft. Das Team in Jahun bestand aus zwölf Medizinern aus Australien, Japan, Indien, der Elfenbeinküste, Kenia, Italien, Belgien und Österreich.
Viel Zeit, um das Land näher kennenzulernen, blieb in den sechs Wochen des Auslandseinsatzes erwartungsgemäß nicht: Eine Runde im Auto im Ort erwies sich als die weiteste Tour in die Umgebung. Sonst bewegten sich Rau und ihre internationalen Kollegen hauptsächlich zwischen Klinikum und Unterkunft. An „Ärzte ohne Grenzen“ schätzt die Wienerin das unabhängige, unparteiische und neutrale Auftreten der Organisation in Krisenregionen sowie die langjährige Erfahrung und Professionalität.
„Ärzte ohne Grenzen“ im Norden Nigerias
Insbesondere der Norden Nigerias ist gekennzeichnet durch politische Instabilität, kaum medizinische Hilfe für Vertriebene und eine hohe Müttersterblichkeit.
Die Hilfsprogramme von „Ärzte ohne Grenzen“ in der Region umfassen u.a.:
- Geburtsnothilfeprogramm im Regierungskrankenhaus in Jahun, Bundesstaat Jigawa;
- Behandlung von Malaria, Atemwegserkrankungen, Mangelernährung und Durchfall bei Kindern unter fünf Jahren sowie Impfungen und stationäre Pädiatrie;
- Medizinische Versorgung, Geburtshilfe und Ernährungsprogramm in zwei Vertriebenenlagern und in zwei Gemeindegesundheitszentren;
- Unterstützung der Notaufnahme und Notoperationen im Krankenhaus Umaru Sheu in Maiduguri;
- Medizinische Sprechstunden, Überweisungen, Schwangerenberatung und Bereitstellung von Trinkwasser im Lager Kukerita sowie Renovierung des Gesundheitszentrums;
- Versorgung von Kindern mit Bleivergiftungen in Zamfara und Niger, verursacht durch unsichere Minen- und Goldabbaupraktiken;
- Bereitstellung von Nahrungsmitteln und psychosoziale Hilfe für Kinder in Sokoto, die unter der Noma-Krankheit leiden, einer bakteriellen Infektion im Gesicht, die zu Fehlbildungen führt;
- Versorgung mangelernährter Kinder in einem Ernährungszentrum in Sokoto;
- Neues Projekt für Betroffene von sexueller und genderbasierter Gewalt in Port Harcourt im Süden des Landes einschließlich einer Aufklärungskampagne in Schulen, Gesundheitszentren und den Medien.
www.aerzte-ohne-grenzen.at; International Activity Report 2015