Gefährdete Kinder sind leise!
KONGRESS – AVPU, AMPLE und ABCDE: Am Kongress für Allgemeinmedizin in Graz wurden ein paar einfache Merkhilfen vorgestellt, mit denen sich in der Praxis rasch abzuschätzen lässt, ob ein Kind kritisch krank ist oder nicht. (Medical Tribune 49/2016)
Die scheinbar so banale Frage, ob ein Kind kritisch krank ist und sofortiger Behandlung oder gar einer stationären Aufnahme bedarf, ist im Praxisalltag oft gar nicht so leicht zu klären. Dr. Anita Mang, Allgemeinmedizinerin und Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde in Öberwölz, hält in solchen Situationen, in denen der niedergelassene Arzt meist auf sich allein gestellt ist und sich oft nur auf seine fünf Sinne verlassen kann, einen strukturierten Zugang für unerlässlich. Die Einschätzung des Bewusstseins eines pädiatrischen Patienten beginnt bereits bei der Anmeldung in der Ordination: „Hier nehme ich den AVPU-Score zu Hilfe“, erläutert Mang ihr Vorgehen.
- A (Alert): Ein waches, vielleicht sogar schreiendes Kind kann warten wie jeder andere Patient. (Cave: Gefährdete Kinder sind leise!)
- V (Voice): Ein Kind, das schlapp auf der Schulter der Mutter hängt und nur reagiert, wenn es angesprochen wird, sollte sofort behandelt werden.
- P (Pain): Wird nur noch auf Schmerz reagiert, ist der Atemweg gefährdet und zusätzlich zu sofortiger Behandlung unbedingt Hilfe zu holen (144 + Notarzt).
- U (Unresponsive): Ist das Kind bewusstlos, sollte bei längeren Transportwegen im ländlichen Raum auch die Alarmierung eines Rettungshubschraubers erwogen werden.
Immer auf die Eltern hören
Wenn die Zeit knapp ist, empfiehlt sich auch bei der Notfallanamnese eine systematische Befragung. Hier ist eine gebräuchliche Gedächtnisstütze das Akronym AMPLE:
- A (Allergies): Hat das Kind Allergien?
- M (Medications): Welche Medikamente nimmt es ein?
- P (Past Medical History): Gibt es Vorerkrankungen?
- L (Last Eaten) Wann war die letzte Mahlzeit?
- E (Events): Und vor allem ganz kurz: Was ist passiert?
Ein Grundsatz, der der Pädiaterin in schwierigen Situationen schon oft weitergeholfen hat: „Hören Sie immer auf die Eltern!“ Ein Arzt, der das Kind nicht kennt, kann geschwollene Lider übersehen. Eltern sehen so etwas in der Regel sofort.
Erst beobachten
Noch ein wichtiger Tipp der erfahrenen Notfallmedizinerin: „Beobachten Sie das Kind zuerst einige Sekunden aus der Entfernung, wenn es noch bei seinen Eltern ist.“ Aus der Hautfarbe, der Neurologie, der Atemfrequenz und der Atemarbeit können bereits gewisse Rückschlüsse gezogen werden. Diese Informationen lassen sich später oft nicht mehr gewinnen. „Sobald das Kind schreit, können Sie die Atemfrequenz, die ein ganz zentraler Vitalparameter ist, nicht mehr beurteilen.“ Nach dieser ersten Einschätzung sollte man sich vorsichtig dem Thorax nähern und wenn möglich auch das Herz auskultieren, bevor der kleine Patient zu schreien beginnt. Erst ganz zum Schluss wird das Kind ausgezogen. Das auch deshalb, weil Kinder relativ schnell auskühlen.
Prioritäten: ABCDE-Schema
Als weiteres strukturiertes Vorgehen bietet sich die Abklärung nach dem ABCDE-Schema an, einer Prioritätenliste, die sich in der Notfallmedizin bewährt hat. Sind die Atemwege obstruiert, sollten die Finger vom Kind gelassen werden, da zusätzliche Aufregungen kritisch enden könnten. Ist man auf sich allein gestellt, ist es auch nicht ratsam, sich damit aufzuhalten, die Sauerstoffsättigung zu messen – ein bei kleinen Patienten oft schwieriges Unterfangen. „Wenn das Kind zyanotisch ist, wissen Sie, dass es eine Sättigung unter 85 Prozent mit massiver Atemarbeit hat“, so Mang. Für die Beurteilung der Kreislaufsituation ist wichtig, die Kinder auch anzufassen. Herzfrequenz, Pulsqualität, Temperatur und Rekapillierungszeit ermöglichen bereits eine grobe Abschätzung der Gefährdung. Kraft und Tonus, aber auch Reflexe und Koordination können zusätzlich Informationen über den neurologischen Status liefern.
Wenn ein Kind sich schlapp anfühlt, ist das ein wichtiges Warnzeichen. Mang rät davon ab, in kritischen Situationen zu versuchen, bei einem Baby den Blutdruck zu messen: „Das hält viel zu lange auf!“ Ganz ohne apparative Diagnostik geht es aber nicht: Bei jedem Kind, das neurologisch auffällig ist, muss der Blutzucker gemessen werden. Fieber allein wird von der Pädiaterin nicht behandelt: „Wenn ein Kind mit 38,5 °C durch die Ordination läuft und sonst gesund wirkt: Warum soll ich dann das Fieber, das ja auch eine Funktion hat, senken?“ Auch Fiebersenkung zur Prophylaxe eines Fieberkrampfes macht wenig Sinn: „Fieberkrämpfe können ebenso im Stadium incrementi oder decrementi auftreten.“
Ausschläge
Wenn das Kind zum Schluss entkleidet wird, ist vor allem auf Ausschläge, Traumen und Zeichen von Misshandlungen zu achten. Wichtig ist, auch die Windel auszuziehen. Ausschläge sind häufig ein unbeliebtes, weil schwieriges Thema. Mang versucht die möglichen Ursachen mit vier Fragen einzuengen: Sind die Effloreszenzen wegdrückbar oder nicht? Ist der Ausschlag systemisch oder lokalisiert? Ist er akut oder chronisch? Ist der Verlauf stadienhaft? Mit diesen vier Fragen lassen sich meist schon drei Gruppen von Ausschlägen identifizieren: Häufigste Ursache für exanthematische Erkrankungen mit stadienhaftem Verlauf sind die typischen Kinderkrankheiten. Eine zweite Gruppe von häufigen, gut erkennbaren und in der Praxis behandelbaren Hauterkrankungen sind die Ekzeme (atopisches Ekzem, Kontaktekzem oder seborrhoisches Ekzem). Bei unspezifischen Effloreszenzen ist vor allem an unspezifische Virusexantheme zu denken. Wenn ein Ausschlag keiner dieser drei Gruppen zugeordnet werden kann, sollte die Zusammenarbeit mit einem niedergelassenen Dermatologen oder einer Fachabteilung gesucht werden.
Entwicklungsstörungen
Entwicklungsstörungen können durch „Grenzsteine der Entwicklung“ definiert werden, die Kinder im jeweiligen Alter erreicht haben sollten. Wer öfter mit Kindern zu tun hat, sollte die wichtigsten Grenzsteine ungefähr kennen und zwischen Entwicklungsverzögerungen, bei denen sich ein Kind normal, nur etwas langsamer entwickelt, und Entwicklungsstörungen, die nicht aufgeholt werden, unterscheiden können. Die Diagnose von Gedeihstörungen – also die Frage, ob ein Kind zu groß, zu klein, zu dick oder zu dünn ist – kann nur auf der Basis von Perzentilenkurven erfolgen. Nur der Vergleich zum Durchschnitt der Kinder in diesem Alter lässt Aussagen darüber zu, ob sich Körpergewicht, Körpergröße und Kopfumfang normal entwickeln oder Messwerte im Lauf der Zeit aus dem Normbereich herausfallen.
Typisch für eine Malnutrition ist, dass zuerst das Gewicht zurückbleibt, dann auch die Körpergröße, während der Kopfumfang kaum betroffen ist. Wenn Gewicht und Körpergröße gleichermaßen abfallen, der Kopfumfang jedoch normal ist, können zum Beispiel endokrine Störungen oder Knochenerkrankungen die Ursache sein. Typisch für Syndrome, intrauterine Infektionen und ZNS-Erkrankungen ist, dass alle drei Parameter in ähnlichem Ausmaß von der Norm abweichen. „Es gibt in jeder Praxissoftware heute ein Perzentilentool, das erworben werden kann“, erklärt Mang. „Wenn die Werte aus dem Mutter-Kind-Pass übertragen werden, kann man so mit einem Blick sehen, ob eine Gedeihstörung vorliegt.“
47. Kongress für Allgemeinmedizin; Graz, November 2016