13 Mythen zur Insektengiftallergie
Die Insektengiftallergie ist im deutschsprachigen Raum der häufigste Auslöser von schweren allergischen Reaktionen bei Erwachsenen. Um ihre Gefährlichkeit und ihre Behandlung ranken sich viele Mythen – die sich leicht entkräften lassen.
Die Wahrscheinlichkeit, in der Ordination mit einer Insektengiftallergie in Kontakt zu kommen, ist hoch: Etwa drei Prozent der heimischen Bevölkerung reagieren mit systemischen Symptomen auf Insektenstiche. Dazu kommen fünf Prozent, die über gesteigerte Lokalreaktionen berichten. Verantwortlich dafür sind hauptsächlich Hymenopteren, in erster Linie Wespen und Bienen. Andere Insektengiftallergien sind eine Rarität. Dass ein Großteil der Patienten mit moderaten bis schweren Stichreaktionen nicht mit einer spezifischen Immuntherapie behandelt wird, obwohl diese indiziert wäre, hat auch mit den zahlreichen Mythen zu tun, die sich um die Gefährlichkeit von Insektenstichen und ihre Behandlung ranken. Beim 11. Wörthersee-Symposium ‚What’s new in allergy‘ listete Ass.-Prof. Dr. Gunter Sturm, Universitätsklinik für Dermatologie und Venerologie, Medizinische Universität Graz, einige der wichtigsten Fallstricke, Irrtümer und Fehleinschätzungen auf.
Mythos 1: Hornissenstiche sind gefährlich
Hornissen sind eindrucksvolle Tiere und ihr Stich ist schmerzhaft. Daraus eine besondere Gefährlichkeit abzuleiten, ist aber falsch. Der Stachel von Hornissen ist zwar länger als der von Wespen und ihr Gift schmerzhafter, Hornissengift ist jedoch deutlich weniger toxisch als Bienengift. Zudem sind Hornissen im Unterschied zu Wespen relativ friedliche Tiere.
Mythos 2: Hummeln können nicht stechen
Auch Hummeln sind sehr gutmütig und haben nur einen schwach ausgebildeten Stichapparat. Dennoch sind Hummeln in der Lage, Menschen zu stechen. Hummelgiftallergien sind allerdings sehr selten. Gefährdet sind in erster Linie Hummelzüchter: Hummeln sind sehr gute Bestäuber für Obstplantagen und in Zeiten der Varroamilbe eine immer wichtiger werdende Alternative zu Bienen.
Mythos 3: Ohne Hautsymptome keine Anaphylaxie
Nach einem Insektenstich gibt es drei mögliche Reaktionen: In den allermeisten Fällen kommt es zu einer etwa 1 cm großen Schwellung, die etwas schmerzt, juckt und sich innerhalb von ein bis zwei Tagen wieder zurückbildet. Von einer gesteigerten Lokalreaktion spricht man bei einer Schwellung über 10 cm, die über 24 Stunden persistiert. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um eine verzögerte IgE-Reaktion. Gefährlich sind die systemischen Reaktionen.
Die alte Lehrmeinung, dass es sich nicht um eine Anaphylaxie handeln kann, wenn keine Hautsymptome vorhanden sind, ist überholt. Eine Urtikaria ist nicht obligat! Es ist sogar so, dass das Fehlen von Hautsymptomen ein Indikator für schwere Reaktionen ist. Wichtig ist auch das Zeitintervall zwischen dem Stich und dem Auftreten von Symptomen: Schwere Reaktionen treten in der Regel innerhalb von sechs Minuten auf. Je länger es dauert, bis Symptome auftreten, desto weniger wahrscheinlich ist ein schwerer Verlauf.
Mythos 4: Stiche im Kopf-, Halsbereich sind ein Risikofaktor für schwere Reaktionen
Auch diese alte Lehrmeinung ist mit der Evidenz nicht vereinbar: Mehrere Studien zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit von schweren Reaktionen bei Stichen im Bereich des Kopfes und Halses nicht erhöht ist.
Mythos 5: Betablocker und ACE-Hemmer sind böse
Ein nach wie vor sehr umstrittenes Thema sind Antihypertensiva. In der 2011 veröffentlichten Leitlinie zur Diagnose und Therapie der Bienen- und Wespengiftallergie heißt es noch, dass Patienten mit Anaphylaxie grundsätzlich nicht mit Betablockern und ACE-Hemmern therapiert werden sollten, da unter dieser Medikation Reaktionen möglicherweise schwerer verlaufen und schwieriger zu behandeln sind.
Auf den ersten Blick scheint das tatsächlich so zu sein: Menschen, die Antihypertensiva einnehmen, haben häufiger schwere Stichreaktionen. Noch viel eindeutiger ist aber der Zusammenhang zwischen Schwere der Reaktion und Alter: Ältere Patienten haben wesentlich schwerere Stichreaktionen. Wenn man nun in einer multivariaten Analyse das Alter herausrechnet (ältere Menschen nehmen ja auch häufiger Betablocker und ACE-Hemmer ein), sind Antihypertensiva kein Risikofaktor mehr.
Mythos 6: Hohes sIgE ist ein Risikofaktor für schwere Reaktionen
Bei der Diagnostik findet man bei manchen Patienten sehr hohe Werte von spezifischem IgE. Bedeutet
das, dass das Anaphylaxie-Risiko erhöht ist? Nein! Studien zeigen, dass die Höhe des sIgE und auch die Reaktion auf
den Hauttest nichts darüber aussagen, ob jemand schwerer reagiert oder nicht.
Mythos 7: Der Hauttest ist gefährlich
Während eine gesteigerte Lokalreaktion üblicherweise keine Diagnostik erfordert, müssen systemische Reaktionen nach Insektenstichen unbedingt abgeklärt werden. Erster Schritt ist die Hauttestung, für die es zwei Optionen gibt: Der Pricktest ist einfach durchzuführen, gibt einen schnellen Überblick und ist daher auch im Ordinationsalltag gut einsetzbar. Aussagekräftiger, aber auch komplizierter in der Anwendung ist der Intrakutantest.
Die Angst, dass beim Hauttest – insbesondere beim Intrakutantest – schwere Reaktionen auftreten können, ist aber unbegründet. Die für die Testung verwendeten Giftkonzentrationen sind im Vergleich zu den bei Bienen- und Wespenstichen übertragenen Mengen äußerst gering. Daher ist auch die gleichzeitige Applikation aller Konzentrationen sicher.
Mythos 8: Mit negativem rApi m 1 kann man eine Bienengiftallergie ausschließen
Derzeit sind für das Wespengift sechs und für das Bienengift zwölf Allergene beschrieben. Wespengiftallergien lassen sich heute sehr gut diagnostizieren: Der Wespenextrakt hat eine hohe Sensitivität und für die komponentenbasierenden Diagnostik stehen beide Hauptallergene (Ves v 1 und Ves v 5) zur Verfügung. Bei fraglicher Bienengiftallergie ist die Komponentendiagnostik deutlich weniger aussagekräftig: Lange Zeit war für die Testung nur die Komponente Api m 1 erhältlich. Ein Ausschluss einer Bienengiftallergie ist damit nicht möglich, da nur etwa 62 % der Bienengiftallergiker eine Sensibilisierung gegenüber Api m1 aufweisen. Mittlerweile ist auch das Allergen Api m 10 verfügbar, für eine Ausschlussdiagnostik ist das aber immer noch zu wenig.
Mythos 9: Höhere sIgE-Werte weisen auf das relevante Gift hin
Hilft bei Unklarheit darüber, ob ein Bienen- oder Wespenstich zur Anaphylaxie führte, das spezifische IgE weiter? Leider nur bedingt: 20 % der Wespengiftallergiker haben höhere sIgE-Werte gegen Bienengift. Als Faustregel gilt: Relativ sicher sein, dass eine Wespengiftallergie vorliegt, kann man sich erst, wenn das sIgE gegen Wespengift 1,5-mal höher ist als das sIgE gegen Bienengift. Bei einer Bienengiftallergie sollte das sIgE sogar 5,5-mal höher sein.
Mythos 10: VIT ist gefährlicher als AIT mit inhalativen Allergenen
Noch immer wird die Hyposensibilisierung mit Insektengiften von Ärzten als eine riskante Therapie mit einem hohen Risiko an schweren allergischen Reaktionen eingeschätzt. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Die Insektengiftimmuntherapie (VIT) zeichnet sich nicht nur durch hohe Erfolgsraten aus, sondern ist sehr gut verträglich. In einer VIT-Studie mit 1410 Patienten wurde nur eine schwere Nebenwirkung beobachtet. Die meisten Nebenwirkungen gibt es übrigens bei Immuntherapien gegen Gräser: „Ich habe vor einer Gräserpollen-Immuntherapie wesentlich mehr Respekt als vor einer Insektenimmuntherapie“, so Sturm.
Mythos 11: Eine schwere Initialreaktion ist ein Risiko für (schwere) Nebenwirkungen der VIT
Vielen Patienten wird die VIT aus Angst vor schweren Nebenwirkungen vorenthalten. Dabei ist die Immuntherapie gerade für Patienten mit Herzkreislaufstillstand und Bewusstlosigkeit nach einem Insektenstich lebenswichtig! Studien belegen ganz klar, dass Patienten mit einer schweren Initialreaktion kein erhöhtes Nebenwirkungsrisiko haben.
Mythos 12: Hohes sIgE oder hohe Hautreaktivität ist ein Risiko für (schwere) Nebenwirkungen der VIT
Auch bei hohem sIgE und starker Reaktivität im Hauttest kann die VIT bei entsprechender Indikationsstellung problemlos durchgeführt werden: In der Literatur findet sich kein Hinweis auf ein erhöhtes Nebenwirkungsrisiko.
Mythos 13: Mit dem Notfallset sind die Patienten gut versorgt
Therapie der Wahl bei systemischer anaphylaktischer Stichreaktion und nachgewiesener Sensibilisierung ist die VIT. Das Notfallset ist bestenfalls eine Notlösung. In einer Diplomarbeit wurde gezeigt, dass nur die Hälfte der Patienten den Adrenalin-Autoinjektor richtig handhabt.