Lipödem trotz Wespentaille

Ausgemergelt trotz eines BMI von 40 kg/m2? Für Lipödem-Patientinnen sind Diäten keine Behandlungsoption, mahnte eine Experte am Grazer Kongress für Allgemeinmedizin und stellte die neue Leitlinie zur Diagnostik und Therapie des Lipidödems vor.

Fast jede Lipödem-Patientin hat schon einmal den Ratschlag gehört, es doch einmal mit Abnehmen zu versuchen. Eine Fehleinschätzung, die leider auch noch von vielen Medizinern geteilt wird. „Man kann ein Lipödem mithilfe von diätetischen Maßnahmen nicht beeinflussen“, stellt Prim. Dr. Christian Ure, Leiter der Lymphklinik im Landeskrankenhaus Wolfsberg, klar. „Je konsequenter eine Patientin mit ausgeprägtem Lipödem Diät hält, desto karikaturhafter wird ihr Körper.“ Betroffene haben oft eine Wespentaille und ein ausgemergeltes Gesicht, ohne dass ihre Fettgewebs­pölster durch das Fasten schwinden. „Lipödematöses Gewebe wird selbst bei einer Kachexie nicht angegriffen.“

Um mehr Bewusstsein für das Krankheitsbild zu schaffen und den langen Leidensweg der Patientinnen zu verkürzen, haben nun die Experten des deutschen Sprachraums erstmals eine Leitlinie für die Diagnostik und Therapie des Lipödems erstellt, die Ende Oktober veröffentlicht wurde.

Disproportionale Fettgewebsvermehrung

Das Lipödem ist eine chronische und progrediente Erkrankung, die durch eine symmetrische Vermehrung des Unterhautfettgewebes in den oberen oder unteren Extremitäten gekennzeichnet ist. Im Unterschied zur Adipositas ist diese Fettgewebsvermehrung disproportional: Stamm, Hände und Füße sind nicht betroffen. Typisch ist der scharfe Übergang zwischen lipödematösem und normalem Gewebe. Dieser Kalibersprung manifestiert sich in den entsprechenden Regionen als „Muff“, „Türkenhosenphänomen“ oder „Kragenbildung“. Die umschriebene Fettgewebsvermehrung ist Folge einer Hypertrophie und Hyperplasie von Fettzellen. Zusätzlich liegen eine Kapillarpermeabilitätsstörung und eine erhöhte Kapillarfragilität vor.

Die Ursache dieser Veränderungen ist unbekannt. Klar ist jedoch, dass hormonelle Faktoren dabei eine ganz entscheidende Rolle spielen: Betroffen sind fast ausschließlich Frauen. Bei Männern werden Lip­öde­me nur im Rahmen von Hormon­störungen beobachtet (z.B. bei Hypo­gonadismus oder Leberzirrhose). Auch bei Frauen entwickelt sich das Lipödem meist in Zeiten von hormonellen Umstellungen, also in der Pubertät, der Schwangerschaft oder der Menopause. Ein Hinweis auf die hormonelle Triggerung der Erkrankung sind auch explosionsartige Verschlechterungen, die durch Gestagen-haltige Dreimonatsspritzen ausgelöst werden können.

Diagnose: Anamnese, Inspektion und Palption

Anamnese, Inspektion und Palpation – mehr braucht man in der Regel nicht, um ein Lipödem zu dia­gnostizieren. Zentrales Merkmal ist die disproportionale Fettgewebsverteilung, die auch an einer im Vergleich zum hohen BMI relativ niedrigen „Waist-Hip-Ratio“ erkennbar ist. Nach der Lokalisation der Lip­ödeme kann man Oberschenkel-, Unterschenkel- und Ganzbeintypen sowie Oberarm-, Unterarm- und Ganzarmtypen unterscheiden. Neben diesem typischen Verteilungsmuster findet man immer eine orthostatische Ödemneigung und eine gesteigerte Druckschmerzhaftigkeit der Haut. Meist bestehen sogar Spontanschmerzen. Charakteristisch ist auch die durch die Kapillarfragilität bedingte Hämatomneigung (blaue Flecken nach Bagatelltraumata oder Spontanhämatome).

Die Haut fühlt sich im Bereich des Lipödems bei der Palpation kühl an, das Matratzenphänomen ist positiv (= steppdeckenartige Einziehungen beim Zusammenschieben). Das Stemmersche Zeichen – ein Hinweis auf Fibrosierungen im Rahmen eines Lymphödems – ist hingegen negativ. „Nur wenn sich im Verlauf der Erkrankung zusätzlich ein sekundäres Lymphödem bildet, findet man auch beim Lipödem verdickte, schwer abhebbare Hautfalten über den proximalen Phalangen des zweiten und dritten Strahls der Hände oder Füße“, erklärt Ure. Biopsien sind nicht zielführend, da die histologischen Veränderungen nicht typisch sind. Erst im Spätstadium der Erkrankung nimmt der fibrotische Gewebsanteil zu.

Durch die körperlichen Veränderungen und die damit verbundenen psychischen Belastungen ist die Lebensqualität der Patientinnen oft stark eingeschränkt. Im Krankheitsverlauf steigt zudem das Risiko für dermatologische, lymphatische und orthopädische Komplikationen. Da die Ursache der Erkrankung nicht bekannt ist, gibt es bis heute keine kausale und keine medikamentöse Therapie. Die Behandlung verfolgt daher zwei Ziele: die Beseitigung oder Besserung der Befunde und Beschwerden durch symptomatische Maßnahmen sowie die Verhinderung von Komplikationen.

Zuerst konservativ therapieren

Nach den Leitlinien sollte jedes Lipödem zuerst konservativ therapiert werden. „Eine Patientin mit einem Lipödem gleich einer chirurgischen Intervention zuzuführen, ist nicht lege artis!“, betont Ure. Mittel der Wahl zur Ödem- und Schmerz­reduktion ist die kombinierte physikalische Entstauungstherapie (KPE), die aus manueller Lymphdrainage, Kompressionstherapie, Bewegungstherapie und Hautpflege besteht und sich in eine initiale Entstauungs- und eine nachfolgende Erhaltungsphase gliedert. Eine Reduktion des krankhaft vermehrten Fettgewebes mit Beseitigung der Disproportion ist durch die KPE natürlich nicht möglich. Wenn die Beschwerden trotz konsequenter Therapie weiter bestehen oder die Erkrankung fortschreitet, kann eine Liposuktion in Erwägung gezogen werden, die in der Lage ist, krankhaftes Unterhautfettgewebe auch dauerhaft zu reduzieren.

Die Liposuktion sollte in örtlicher Betäubung mittels Tumeszenz-Lokalanästhesie (TLA) und mit stumpfen Mikrosonden durchgeführt werden, da bei dieser Operationstechnik keine relevanten Schäden an den Lymphgefäßen entstehen. Ure warnt jedoch vor falschen Erwartungen: „Die Liposuktion ist keine Methode zur Gewichtsreduktion!“ Bei Patientinnen mit massiv ausgeprägten Lipödemen ist es unter Umständen auch notwendig, die nach erfolgreicher Entstauung zurückbleibenden schlaffen Gewebesäcke chirurgisch zu resezieren (= Dermolipektomie). Ergänzt werden sollten die KPE und die Liposuktion durch körperliche Aktivität. Empfohlen werden vor allem sportliche Betätigungen im Wasser (Schwimmen, Aqua-Jogging, Aqua-Aerobic, Aqua-Cycling), da durch den Auftrieb die Gelenke entlastet, durch den Wasserdruck eine Lymphdrainage bewirkt und durch Bewegung gegen den Wasserwiderstand Kalorien verbraucht werden. Bei ausgeprägtem Leidensdruck und psychischen Auffälligkeiten kann auch eine Psychotherapie sinnvoll sein.

Diagnose des Lipödems

  • Frauen
  • typisches unverhältnismäßiges Fettgewebe-Verteilungsmuster
  • Symptomentrias: Druckschmerz, Hämatome, orthostatische Ödeme

Weitere Informationen:

Stationäre Behandlungen: Es gibt in Österreich zwei Zentren, in denen eine lymphologische Rehabilitation durchgeführt werden kann:

Der Verein ChronischKrank hat auch eine Selbsthilfegruppe Lipödem: chronischkrank.at/verein/unsere-selbsthilfegruppen/lipoedem/

Lipödem-Leitlinie:
www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/037-012l_S1_Lipoedem_2015-10.pdf

46. Kongress für Allgemeinmedizin; Graz, November 2015

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune