25. Juni 2014

Fall der Woche: Steckt wirklich der Thunfisch dahinter?

Sie wollen gerade Ihre Ordination schließen, als eine junge Frau mit ihrer Mutter in Ihre Räumlichkeiten schwankt. „Es ist ein Notfall, meiner Mutter geht es wirklich schlecht! Ich habe sie gerade im Park abgeholt, da ihr plötzlich so schwindlig geworden ist, als sie spazieren gegangen ist, und sie ist nur noch am Erbrechen“, erklärt die Tochter (Mitte 20) völlig verzweifelt. Der Patientin geht es sichtlich schlecht, ihr ist total übel, und sie erbricht immer wieder. Von der Tochter erfahren Sie, dass Frau S. Ende 40 ist und bis jetzt immer gesund war. Das Einzige, was der Tochter einfällt, ist, dass die Mutter zu Mittag eine Dose Thunfisch gegessen hat. Drei Stunden später fingen die Symptome an. Frau S. kann kaum reden und die Augen nur kurz öffnen, da der Schwindel noch stärker wird. Es genügt aber, um einen starken Nystagmus zu erkennen. Welche Differenzialdiagnosen sind in diesem Fall zu beachten und welche Sofortmaßnahmen leiten Sie ein? Steckt der Thunfisch dahinter?

„Eine toxische Genese ist in diesem Fall unwahrscheinlich“

MR Dr. Wilhelm Streinzer
HNO-Facharzt, Wien
Bei der bis jetzt gesunden über 40-jährigen Frau ist plötzlich ein heftiger Schwindel aufgetreten, der permanent anhält. Das Erbrechen ist als Folge dieses Schwindels aufgetreten. Die Erst- bzw. Arbeitsdiagnose ist ein akuter einseitiger Vestibularisausfall. Um diese Diagnose abzusichern, ist ein Ohrstatus mit klinischer Prüfung des Hörvermögens, die Beurteilung der Art und Charakteristik des Spontannystagmus, ein Hirnnervenstatus, die Beurteilung der Extremitäten hinsichtlich Beweglichkeit und Sensibilität sowie die Messung des Blutdrucks und der Herzfrequenz notwendig.
Zeigen diese Untersuchungen an sich normale Befunde und besteht ein horizontal- rotatorischer Nystagmus, handelt es sich hochwahrscheinlich um einen Labyrinthausfall. Die Seite ergibt sich aus der Nystagmusrichtung (Ausfallnystagmus zum Gegenohr). Gegen diese Diagnose spricht die Verstärkung des Schwindels beim Öffnen der Augen, allerdings ist das im Akutfall oft nicht eindeutig als Ausschlusskriterium einer peripheren zu einer zentralen Ursache zu bewerten.
Bei wesentlicher Einschränkung des Gehörs auf der gleichen Seite besteht ein vestibulocochleärer Ausfall, d.h. das gesamte Innenohr ist ausgefallen. Eine Kalorisation zur Sicherung der Diagnose ist im Akutstadium der Patientin nicht zumutbar.
Bestehen Sprechstörungen, Hirnnervenausfälle wie z.B. Facialis-, Glossopharyngeus-, Vagus-, Hypoglossusparese(n) oder periphere Paresen, ist das bereits grobklinisch ein Hinweis auf eine zentrale Ursache wie z.B. Hirnstamminfarkt, Kleinhirninfarkt, MS-Schub, ZNS-Tumorerkrankungen. . .
Eine Erhöhung des Blutdruckes oder der Herzfrequenz kann sekundär durch das Akutereignis hervorgerufen sein.
Auf jeden Fall ist die Patientin stationär aufzunehmen, je nach der wahrscheinlichsten Ursache an einer HNO- oder neurologischen Abteilung. Eine initiale Akuttherapie in der Ordination zur Bekämpfung des Schwindels mittels eines Neuroleptikums ist nicht indiziert, die Symptome wären maskiert, und die Patientin könnte die Ordination auch nicht zu Fuß verlassen.
Wenn sich bei der stationären Durchuntersuchung keine Zeichen einer zentralen Genese zeigen bzw. durch bildgebende Verfahren auszuschließen sind, ist eine initiale Therapie mit Corticoiden und Neuroleptika einzuleiten. Die massiven Schwindelbeschwerden sistieren meist binnen weniger Tage, und die weitere Diagnostik kann nachgeholt werden.
Eine toxische Genese ist unwahrscheinlich und ist eher ein Versuch der Patientin bzw. ihrer Tochter, einen Kausalzusammenhang zu finden.

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