18. Juni 2014

Wenn Kids das Lernen verweigern

WIEN – Schul-Endspurt: Für viele Eltern Zeit zu reflektieren, warum ihr Spross in diesem Jahr so oft Gründe gefunden hat, um in der Schule mit Abwesenheit zu brillieren. Beim 1. Kongress für Schulgesundheit in Wien sprach der bekannte Schweizer Ordinarius für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Univ.-Prof. Dr. Hans-Christoph Steinhausen, über das spannende Thema: „Psychopathologie der Schulabwesenheit“.

Schulabwesenheit kann unterschiedlichste Ursachen haben, so auch pathologische, die in einer Differenzialdiagnose ergründet werden müssen: depressive Episoden, „Schulschwänzen“ als Störung des Sozialverhaltens, Anpassungs- oder Belastungsstörungen, nicht psychisch bedingte Gründe (Krankheit, Überforderung etc.) sowie Schulverweigerung aufgrund von „Schulphobie“ bzw. „Schulangst“.

Die Definitionen für Schulphobie und Schulangst sind – aus der Sicht von Kinder- und Jugendpsychiater Univ.-Prof. Dr. Hans-Christoph Steinhausen – eher unglücklich gewählt: „Denn die Schulphobie beruht nicht auf Angst vor der Schule, sondern auf Trennungsangst“, hebt er hervor. Grund dafür sei oftmals eine enge Eltern-Kind-Beziehung, ein überprotektives Verhalten meist der Mutter. Die „Schulangst“ hingegen habe tatsächlich Phobien als Ursache: Agrophobien, Panikstörungen, spezifische Phobien, soziale Ängstlichkeiten/Phobien und generalisierte Angststörungen.

Mit oder ohne Angst?

Ganz klar von Schülern, die aus Angst den Besuch der Schule verweigern, abzugrenzen sind „Schulschwänzer“, die im Rahmen einer dissozialen Entwicklung die Schule chronisch vermeiden. Während Schulangst vorrangig mit internalisierenden Problemen einhergeht, ist bei diesen Schulschwänzern ein extrovertiertes, delinquentes Verhalten häufig. „Die schulischen Leistungen der Schwänzer gehen oftmals stetig nach unten, vielen fällt es schwer, sich in eine Gruppe einzufügen“, erklärt Prof. Steinhausen. „Oft spielt ein eher liebloses und desinteressiertes Umfeld mit. Kommen Belastungen in der Familie wie Scheidung der Eltern oder Arbeitslosigkeit hinzu, kann das den Einstieg in eine regelrechte Schwänzerkarriere auslösen.“

In einer repräsentativen Zürcher Studie von Prof. Steinhausen* gaben fünf Prozent der befragten Schüler im Alter von 13 Jahren zu, zu schwänzen, obwohl sie keine Angst vor der Schule hatten. Drei Jahre später waren es sehr viel mehr: nämlich 18,4 Prozent. Bei Schulangst verhielt es sich genau umgekehrt: Sie nahm von 5,9 Prozent bei den 13-Jährigen auf 3,6 Prozent bei den 16-Jährigen ab. Prof. Steinhausen erklärt dies damit, dass sich Schüler in der Adoleszenz oftmals aus der im Kindesalter noch starken elterlichen Behütung lösen können und ihre Angst abbauen.

Über den Zeitraum der drei Jahre gesehen waren mehr Mädchen als Burschen Schulverweigerer, aber mehr Burschen als Mädchen Schulschwänzer. Auch ein gemischtes Profil aus schulschwänzendem Verhalten und angstbedingter Schulverweigerung ist möglich. Schulabsentismus kommt grundsätzlich in allen sozialen Schichten vor, wobei Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Verhältnissen häufiger dazu tendieren. Bei Schulangst und Schulschwänzen sind Lernstörungen häufig, während diese bei der Schulphobie meist fehlen.

Multimodale Therapie

Den unterschiedlichen Typen von Schulverweigerern müsse auf unterschiedliche Art und rechtzeitig geholfen werden – gibt Prof. Steinhausen zu bedenken. Deshalb seien Schulbehörden und Gesellschaft insgesamt gefordert. Es gehe darum, frühzeitig einzugreifen und sich die Vielfalt der Probleme anzusehen, die hinter dem Phänomen des Schwänzens und der Schulverweigerung stecken. Grob unterschieden wird dabei in der Regel zwischen kind-, schul-, familien- und systembedingten Faktoren.

Beispiele für Probleme in der Schule wären: Tyrannisieren durch Mitschüler, Viktimisierung durch Lehrer, hohe Anforderungen, auch z.B. in sportlicher Hinsicht; beim Kind selbst u.a. die bereits angeführten Ängste, Teilleistungsstörungen, depressive Episoden, mangelnde soziale Kompetenz; im familiären Umfeld: u.a. psychische Störung der Eltern, familiäre Belastungen, Schulverweigerung der Geschwister, Ärger und Angst der Eltern bezüglich der Schulverweigerung und dadurch unabsichtliche Verstärkung dieser, hohe Ansprüche der Eltern; und in puncto professionellem Netzwerk: Mangel an Koordination und verwirrende Kommunikation mit den Eltern bezüglich der Bedeutung der körperlichen Symptome.

„Eine multimodale Therapie ist unerlässlich!“, betont Prof. Steinhausen (Beispiele siehe Kasten). Sie umfasst in der Regel Psychoedukation und Psychotherapie/Verhaltenstherapie. Eine nur randstellige Rolle spielt die Psychopharmako-Therapie.

1 Kongress für Schulgesundheit „Gesundheit macht Schule“, Gesellschaft der Schulärztinnen und Schulärzte Österreichs; Wien, 23.Mai 2014
* ZAPPS Child and Adolescent Psychiatry and Mental Health. Frequency, stability and differentiation of self-reported school fear and truance in a community sample: Hans-Christoph Steinhausen, Nora Müller und Christa Winkler Metzke, Zürich 200
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Therapie

Beispiel Angststörungen: Empirisch validierte kognitivverhaltenstherapeutische Interventionen setzen hier auf:

  • Psychoedukation von Eltern und Kind
  • kognitive Techniken (inklusive Problemlösetraining)
  • Reizkonfrontationsverfahren (graduelle Konfrontation in vivo ohne Entspannung, systematische Desensibilisierung)
  • operante Techniken (soziale Verstärkung, Münzverstärkung)
  • Entspannungstraining (progressive Muskelentspannung)
  • Hausaufgaben
  • Elterntraining (Abbau dysfunktionaler Gedanken und inadäquaten Elternverhaltens, ggf. Therapie von Ängstlichkeit)
  • Psychopharmako-Therapie bei allgemeiner Indikation als Vorbereitung einer Psychotherapie und Krisenintervention, bei schwerer Symptomausprägung oder Chronifizierung der Symptomatik. Bei spezieller Indikation: Panikstörung/Agoraphobie, Schulangst und -phobie, sozialer Phobie, generalisierter Angststörung

Beispiel Störungen des Sozialverhaltens: Interventionsebenen:

  • Familie: Eltern-Kind-Training, Eltern-Jugendlichen-Kommunikationstraining, Familientherapie, Sozialarbeit
  • Patient: Problemlösetraining, Selbstkontrolltraining, soziales Kompetenztraining
  • Pharmakotherapie
  • Interventionen im Kindergarten/ in der Schule
  • Interventionen in der Gleichaltrigengruppe

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune