Wiener Schmerzsymposium: Das Leid im Bauch
WIEN – Chronische Bauchschmerzen betreffen Menschen jedes Alters. Nicht immer können somatische Ursachen identifiziert werden. Dementsprechend spielen auch in der Therapie die Methoden der Psychosomatik eine wichtige Rolle.
Unter chronischem Unterbauchschmerz (chronic pelvic pain, CPP) wird ein anhaltender Schmerzzustand über mindestens sechs Monate verstanden, von dem zumeist Frauen betroffen sind. Die 3-Monats- Prävalenz in der Allgemeinbevölkerung beträgt etwa 24 Prozent bei Frauen. Jedoch werden auch bei Männern chronische Unterbauchschmerz- Syndrome beschrieben. „Schmerz ist entsprechend der IASP-Definition ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis. Wenn man Gefühle der Psyche zurechnet und die Sinne dem Körper, hätten wir also schon einen psychosomatischen Zustand vorliegen.
Diese breite Sicht der Dinge würde aber kaum für Therapieentscheidungen brauchbar sein“, so Prim. Univ.- Prof. Dr. Martin Aigner, Leiter der Abteilung für Erwachsenenpsychiatrie am Landesklinikum Tulln. Diagnostizierbare somatische Erkrankungen sind mögliche Ursachen, werden jedoch nur bei einem Teil der Patientinnen gefunden. Prof. Aigner: „Bei manchen Patientinnen können emotionale Konflikte oder psychosoziale Belastungen als entscheidende ursächliche Faktoren gelten. Etwa ein Drittel der Frauen mit CPP leiden auch unter einer Dyspareunie und etwa 80 Prozent unter einer Dysmenorrhö.“ Wichtige Risikofaktoren sind Depression sowie sexueller Missbrauch in der Vorgeschichte.
Prof. Aigner empfiehlt, mit den beiden Standard- Fragen „Haben Sie sich in den letzten zwei Wochen deprimiert oder hilflos gefühlt?“ und „Hatten Sie in den letzten zwei Wochen weniger Interesse oder Freude, Dinge zu tun, die Sie sonst gerne machen?“ auf Depression zu screenen und auch das Thema Missbrauch vorsichtig anzusprechen. Allein die Frage „Wie war Ihre Kindheit“ kann hier schon eine hilfreiche Antwort liefern. Auch Fragen nach der Sexualität können in diesem Zusammenhang sinnvoll sein.
Multidisziplinarität
Im praktischen Umgang mit diesem Syndrom und den Betroffenen fordert Prof. Aigner „eine Herangehensweise, die psychosomatisch integrativ begreift“, mit anderen Worten sowohl psychosoziale als auch somatische Faktoren für Diagnosestellung und Therapie heranzieht. Dabei wird nicht auf ein lineares unikausales Modell abstrahiert, sondern auf Wechselwirkungsmodelle. Diese Herangehensweise erfordert eine aktive Patientenrolle und stellt gegenüber dem Reparaturmodell der Medizin einen Paradigmenwechsel dar. Multidisziplinäre Zusammenarbeit ist im Umgang mit chronischen Unterbauchschmerzen immer gefragt.
Auch in der Gynäkologie ist man sich der enormen Rolle, die die Psyche beim Unterbauchschmerz spielen kann, bewusst. „Wir gehen davon aus, dass auf 60 bis 80 Prozent der Patientinnen mit chronischem Unterbauchschmerz die Diagnosekriterien der somatoformen Schmerzstörung zutreffen“, sagt OA Dr. Friederike Siedentopf von der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe am Martin-Luther-Krankenhaus in Berlin. Auch wenn die Abklärung einen Befund ergibt, sei keineswegs gesichert, dass dieser auch die Ursache der Beschwerden ist. Dr. Siedentopf: „Es ist stets eine kritische Abwägung zwischen erhobenen Befunden und ihrer Bedeutung für die tatsächliche Schmerzgenese erforderlich.“ Daher solle die Betreuung der Patientinnen immer unter Einbeziehung des bio-psychosozialen Modells erfolgen.
Dieses sei, so Dr. Siedentopf, auch die Grundlage der therapeutischen Haltung für das ärztliche Handeln. Und zwar sowohl für die Gesprächstherapie als auch die medikamentöse Behandlung oder sogar eine operative Therapie. Ziel sei es, zu klären, in welchem Umfang die Schmerzen durch psychische Faktoren beeinflusst sind oder ob eine psychische Komorbidität besteht.
Invasive Eingriffe in der Gynäkologie
Dennoch findet man nicht immer ohne Chirurgie das Auslangen. Invasive Eingriffe können bereits in der Diagnostik erforderlich werden. Dr. Siedentopf: „Für die operative Diagnostik und Therapie wird die Laparoskopie als Instrument der Wahl empfohlen, auch wenn die eingeschränkte Datenlage bezüglich definierter Maßnahmen z.B. der Adhäsiolyse zu berücksichtigen ist. Die häufigsten intraoperativ erhobenen Befunde sind Endometriose und Adhäsionen. Eine besonders kritische Abwägung ist bei wiederholten laparoskopischen Eingriffen erforderlich.“
Der chronische Unterbauchschmerz ist in der Regel kein leicht zu therapierender Zustand. Der Heilungsverlauf stelle an alle Beteiligten eine hohe Herausforderung, warnt Dr. Siedentopf – sowohl was das Zeitmanagement angeht als auch „im Hinblick auf die Bewältigung von Rückschlägen und Frustration“. Die entstehende Situation mit den dabei ausgelösten, oft unbewussten Emotionen können schwerwiegende Auswirkungen auf die Arzt-Patientinnen-Beziehung haben. Die Folgen reichen in extremen Fällen „von vernachlässigender Diagnostik und Therapie bis zu nicht gerechtfertigten invasiven Eingriffen“.
Chronische Bauchschmerzen sind jedoch keineswegs nur ein Problem erwachsener Frauen, sondern treten auch bereits im Jugend- und Kindesalter auf. „Täglich werden zahlreiche Kinder und Jugendliche mit Bauchschmerzen bei Kinder- und Jugendärzten, Allgemeinärzten, aber auch in Notfallambulanzen vorgestellt“, sagt dazu Dr. Stephan Buderus, Chefarzt der Abteilung für Pädiatrie am St- Marien-Hospital in Bonn.
CED und Zöliakie bei Kindern ausschließen
Die Schmerzen können akut sein, bestehen häufig aber bereits chronisch, das heißt seit Wochen, Monaten oder gar Jahren. Dr. Buderus: „Individuell variiert das Spektrum hinsichtlich Frequenz, Dauer der Episoden, Art des Schmerzes und der Schwere ganz erheblich. Typischerweise erleben die Kinder und ihre Eltern aber eine ausgeprägte Beeinträchtigung und können zum Teil tage- oder gar wochenlang nicht mehr die Schule besuchen und ihren Freizeitbeschäftigungen wie Sport oder Musik nachgehen.“ Dies kann auch der Fall sein, wenn die Ergebnisse differenzierter somatischer Diagnostik unauffällig bleiben. Dennoch müsse man die Patienten und deren Eltern ernst nehmen.
„Die ärztliche Herausforderung besteht bei chronischen Bauchschmerzen darin, Kinder mit organischen Ursachen wie z.B. chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, Zöliakie, gastroösophagealer Refluxerkrankung oder H.-pylori-bedingter Ulkus-Erkrankung zu identifizieren, ohne alle Kinder ungerechtfertigterweise durch eine zu umfassende und ausufernde Diagnostik zu belasten“, sagt Dr. Buderus. In vielen Fällen sind funktionelle gastrointestinale Störungen wie funktionelle Bauchschmerzen oder das Reizdarmsyndrom die Ursache der Beschwerden.
Alarmsignale abklären
Unbedingt geachtet werden muss auf Alarmsymptome wie Fieber, persistierende Beschwerden im Ober- oder Unterbauch, insbesondere in Verbindung mit palpabler Resistenz oder Abwehr, ungewollten Gewichtsverlust, Arthritis, perianale Auffälligkeiten, Eintritt der Pubertät und andere. Im Labor können die Bestimmung der Entzündungsmarker (BSG und/oder CRP) sowie eine Bestimmung der Zöliakieserologie sinnvoll sein. Dr. Buderus: „Die Therapie der funktionellen gastrointestinalen Störungen ist anspruchsvoll, hier nimmt die Edukation einen wichtigen Stellenwert ein. Dem Patienten und seiner Familie sollte klar signalisiert werden, dass die Beschwerden vorhanden sind und auch ernst genommen werden, dass andererseits aber keine Sorge bestehen muss, dass eine schlimme Krankheit übersehen wird."
Eine niedrig dosierte laxierende Therapie oder der Einsatz von Probiotika ist bei manchen Patienten hilfreich und sinnvoll. Im Sinne der „evidence based medicine“ haben sich, so Dr. Buderus, bisher allerdings Autosuggestionsverfahren wie autogenes Training, progressive Muskelrelaxation oder virtuelle Reise als am effektivsten erwiesen.
18. Internationales Wiener Schmerzsymposium; Wien, März 2014
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