Vorsorgemedizin III: Die richtigen Fragen
Präventive Angebote und Maßnahmen für Kinder und Jugendliche werden nicht immer genützt. Das ärztliche Gespräch kann eine sehr effiziente Form der Vorsorgemedizin sein.
Vorsorgemedizin für Kinder beginnt vor und in der Schwangerschaft. Präkonzeptionell getroffene Maßnahmen sowie Untersuchungen in der Schwangerschaft wirken sich bereits präventiv auf Kinder aus. Beispiele sind die Folsäureprophylaxe, Achtsamkeit auf Nikotinkarenz, Gewicht, Blutdruck, Blutzucker, Schilddrüsenfunktion während der Schwangerschaft oder auch die Möglichkeit des Gespräches mit den werdenden Eltern im Rahmen der Mutter-Kind-Pass-Untersuchung. Der relativ häufig verwendete Satz der Eltern „Hauptsache, es ist gesund“ thematisiert die Hoffnungen und Wünsche für ihr Kind und sich selbst.
Eine Kluft zwischen Wunsch und Handeln zeigt sich aber darin, dass 98 Prozent aller Gesundheitsausgaben auf die Krankenbehandlung entfallen und nur zwei Prozent auf Verhinderung oder Früherkennung. Auf Elternseite wiederum machen sich die Abnahme der Teilnahme an den MKP-Untersuchungen mit zunehmendem Kindesalter und der Rückgang an der Teilnahme an den Auffrischungsimpfungen im Schulalter im Vergleich zu den Impfungen in den ersten Lebensjahren bemerkbar. Gemeinsam mit Fachärzten für Kinder- und Jugendheilkunde, Amtsärzten, Schulärzten versuchen wir Allgemeinmediziner dem entgegenzuwirken.
Eine besondere Beziehung
Dass vorhandene präventive Maßnahmenprogramme wie z.B. Impfcheck, Unfallverhütung oder die MKP-Untersuchungen noch mehr Effizienz haben, könnte dadurch erreicht werden, dass die besondere Beziehungskonstellation Kind-Eltern-Arzt während der Untersuchung noch mehr beachtet wird. Dabei geht es um die Nutzung der „geteilten Aufmerksamkeit“: Was braucht das Kind, und zwar von wem? Und was braucht z.B. die Mutter, um ihr Kind im Sinne der Erhaltung oder Wiedererlangung körperlicher, sozialer und psychischer Kompetenz zu unterstützen?
Beispielsweise kann die Frage „In welchem Bereich hat Ihr Kind erfreuliche Fähigkeiten, in welchem Bereich braucht es Ihre besondere Unterstützung?“ den Fokus über die Pathologieorientiertheit hinaus erweitern. Ablehnende Haltungen zum Thema Impfen sind besondere Herausforderungen, wenn man nicht in ärztliche Resignation verfallen oder mit einer unverstandenen Belehrung inklusive nachdrücklichem Hinweis auf ärztliches Wissen enden will. Ziel kann manchmal sein, zumindest die Wahlmöglichkeit der Eltern zwischen Impfen und Nichtimpfen wieder aufzumachen und diesen wieder Fragen zu ihren Befürchtungen in Bezug auf Krankheit und befürchtete Nebenwirkungen von Impfungen zu ermöglichen. Nicht zu vergessen die anerkennende Bestärkung der Eltern, die diesbezüglich gut für ihr Kind vorsorgen.
Erweiternde Fragen
Präventiv für die psychosoziale Entwicklung des Kindes wirken auch erweiternde Fragen nach den Außenperspektiven, z.B. der Kindergärtnerin, den Großeltern, den Geschwistern, nach dem Verhalten im Familiengeschehen, Herausforderungen durch die Position in der Geschwisterposition oder nach anderen gleichzeitigen Belastungssituationen im Umfeld. Neben der Wahrnehmung der spezifischen Mutter- Kind- bzw. Vater-Kind-Interaktion können Beachtung und Fragen dazu die Resilienzentwicklung des Kindes fördern.
Neue Initiativen
Unfallverhütende Initiativen wie „Große schützen Kleine“ (www.grosse-schuetzenkleine. at) bieten gute Fragekataloge für Eltern an, um das Lebensumfeld des Kindes zu sichern. Das erweiternde ärztliche Gespräch, in dem geklärt wird, wie Eltern ihren Kindern den Umgang mit Gefahren beibringen, ohne dabei der Gefahr der „Überbehütung“ zu erliegen, geben immer wieder Chance, anregend intervenieren zu können.
Jugendalter: Neue Beziehungsmuster
Besondere Bedeutung haben anlassbezogene Gespräche dann im Jugendalter, wenn Alkohol, Moped, Rauchen, Sexualität, Verhütung, Ernährung und Bewegung einer Auseinandersetzung und Positionierung bedürfen. Gerade in diesem Alter würde eine zu fordernde Vorsorgeuntersuchung der notwendigen Entwicklung der Selbstverantwortung der Jugendlichen Rechnung tragen. Sie können die Statements der Erwachsenen schon nicht mehr hören – und gefährden sich „vertrauensvoll“ weiter. Diesen Spagat berücksichtigend, könnte die Stärkung der Selbstverantwortung durch die Inanspruchnahme einer Vorsorgeuntersuchung ein zusätzlicher präventiver Baustein sein. Die Vielfalt der Spezialfächer der Erwachsenenmedizin wird dem Erwachsenwerden zuliebe zunehmend primär in Anspruch genommen (Frauenarzt, Lungenarzt, Augenarzt etc.). Häufig wird aber auch selbständig der schon aus Kindheitstagen vertraute Hausarzt aufgesucht. Die Hemmschwelle zur Inanspruchnahme medizinischer präventiver Beratung ist in diesem Alter bei der Hausarztmedizin oft geringer als bei Fachärzten für Kinderheilkunde. Doch auch hier ist die gemeinsame Achtsamkeit verschiedener Arztgruppen eine wichtige Chance für präventive Maßnahmen.
Gemeinsam Lücken aufzeigen
Gemeinsam mit den Fachärzten für Kinderund Jugendheilkunde ist es uns wichtig, Lücken im Präventionsbereich aufzuzeigen, z.B. das Thema der Psychosomatik im Kindesalter, der fehlenden Untersuchungen im Jugendalter, Impfschutz oder schädigende Umfeldbedingungen bzw. nicht abgedeckte Gesundheitsbedrohungen. Hier gilt es die Versorgungsrealität durch strukturelle Maßnahmen und geänderte Rahmenbedingungen zu verbessern.
Dr. Barbara Hasiba, Ärztin f. Allgemeinmedizin, Birkfeld Lehrbeauftragte f. Allgemeinmedizin an der MedUni Graz,
Lehrtherapeutin für systemische Familientherapie (ÖÄK), Mitglied der Arbeitsgruppe MKP der ÖGAM und der „Interdisziplinären Expertenkommission Mutter-Kind-Pass“ (ÖÄK)
In Kooperation mit der Österreichischen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin