Auf dem Weg zum künstlichen Pankreas
Obwohl die pathophysiologischen Grundlagen des Diabetes mellitus immer besser verstanden werden, gibt es derzeit keine Hinweise, dass eine Heilung auch nur einer der verschiedenen Diabetesformen in absehbarer Zeit möglich werden könnte. Sehr wohl in Sicht ist jedoch eine immer bessere Übernahme physiologischer Funktionen durch Technologie. Heißt im konkreten Fall: Insulinpumpen, die auf Basis kontinuierlicher Glukosemessung vollautomatisch gesteuert werden. Mit diesem Quantensprung in der Diabetes-Technologie würde es möglich, die derzeit erforderliche permanente Beschäftigung des Patienten mit seinem Glukosespiegel zu reduzieren. Denn gegenwärtig erfordert das Vermeiden von Hyper- und Hypoglykämie die beständige Intervention der Betroffenen – was in Verbindung mit einem modernen Alltag in Schule, Studium und Beruf nicht immer einfach ist.
Die Entwicklung von “Devices” hat bereits heute die Realität der Diabetes-Therapie verändert. Anlässlich des Kongresses der European Association for the Study of Diabetes (EASD) in Barcelona sprachen wir mit Univ.-Prof. Dr. Thomas Pieber von der Klinischen Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel der Medizin Universität Graz über die Rolle der Technologie in der Behandlung des Diabetes mellitus.
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Mehr Automatisierung, weniger Stress
Eine Automatisierung der glykämischen Kontrolle soll nicht nur den Stress reduzieren, dem insulinpflichtige Diabetiker ausgesetzt sind, sondern auch das Fehlerpotential bei der Insulintherapie reduzieren. Solche Systeme zur automatischen Insulinversorgung werden closed loop oder “künstliches Pankreas” genannt und bestehen aus einem Gerät zur kontinuierlichen Glukosemessung, einer Pumpe zur konstanten subkutanen Insulininfusion und einem Kontrollgerät, das die beiden verbindet. Diese Rolle könnten in einem alltagstauglichen Setting beispielsweise auch Smartphones übernehmen.
Diese neue Technik, von der Typ-1-Diabetiker schon in naher Zukunft profitieren könnten, befindet sich bereits in klinischen Studien. Gleichzeitig sind jedoch noch komplexe und durchaus grundlegende Fragen zu beantworten. Das entscheidende Problem aller geschlossenen Systeme ist die Reaktionszeit. Und zwar auf beiden Seiten des Regelkreises. Einerseits muss ein alltagstauglicher Weg gefunden werden, den Blutzuckerspiegel kontinuierlich zu überwachen, andererseits muss Insulin bei Bedarf möglichst zeitgleich zur Verfügung gestellt werden. Hinzu kommen technische Schwierigkeiten, besonders auf Seite der kontinuierlichen Glukosemessung. Glykämische Kontrolle mittels closed loop war eines der zentralen Themen auf der 2014 in Wien abgehaltenen Conference on Advanced Technologies and Treatments for Diabetes.
Probleme bei der Blutzuckermessung
Systeme zur kontinuierlichen Blutzuckermessung gibt es bereits. Sie werden heute von Typ-1-Diabetikern verwendet, um einem besonders hohen individuellen Hypoglykämie-Risiko entgegenzuwirken und sie helfen insulinpflichtigen Patienten bei Leistungen, die vor nicht allzulanger Zeit als für die Diabetiker nicht machbar galten – wie zum Beispiel Marathonlaufen oder Autorennen fahren. Trotz dieser Erfolge sind noch lange nicht alle anstehenden Probleme gelöst. Die größte Schwierigkeit liegt darin, dass in der äußersten Peripherie gemessene Zuckerwerte nicht jenen in größeren Arterien und Venen entsprechen. Dieses Problem stellt sich schon bei der Glukosemessung aus dem Kapillarblut der Fingerbeere und noch mehr bei der interstitiellen Flüssigkeit an der sich die Sensoren zur kontinuierlichen Glukosemessung orientieren.
“Die Zuckerwerte in der interstitiellen Flüssigkeit hinken den Blutwerten laut verschiedener Berichte um rund 15 Minuten nach”, sagt dazu Univ.-Prof. Dr. Ananda Basu von der Mayo Clinic und unterstreicht die Bedeutung, die die genaue Korrelation dieser Messwerte für die Entwicklung des closed loop hat. Der Weg zur Lösung dieses Problems dürfte in verlässlichen Algorithmen zur Auswertung der aus der interstitiellen Flüssigkeit gemessenen Glukosewerte liegen. Prof. Basu und seine Gruppe analysierten den Weg der Glukose vom Plasma ins Interstitium anhand der Verteilung radioaktiver Tracer und fanden bei gesunden Probanden eine Verzögerung von fünf bis sechs Minuten. Daten von Typ-1-Diabetikern sind noch unpubliziert, weisen jedoch, so Prof. Basu, in eine ähnliche Richtung. Damit wäre allerdings nur ein Teil der erforderlichen Arbeit getan. Denn nach Nahrungsaufnahme, bei körperlicher Belastung und unter Einfluss von Medikamenten könnte sich das Bild deutlich verändern. Entsprechende Untersuchungen werden gegenwärtig durchgeführt.
Mehr Lebensqualität mit Sensor
Wie es Patienten mit kontinuierlicher Glukosemessung geht, erhob eine Gruppe am Londoner King’s College. Den Forschern ging es dabei um ein realistisches Setting. Denn bisherige klinische Studien hätten, so Studienleiter Dr. John Pickup, zwar hinsichtlich der Lebensqualität keine signifikanten Unterschiede zwischen kontinuierlicher und herkömmlicher Blutzuckermessung gefunden, doch wären diese Studien eben mit einem altbekannten Bias behaftet gewesen: Untersucht wurden hervorragend eingestellte, motivierte und intellektuell bewegliche Probanden. Auch seien die standardisierten Fragebögen für Lebensqualität nur eingeschränkt für diese Fragestellung geeignet. Dr. Pickup: “Wir wissen wenig über die Erfahrungen der Patienten mit der CGM, beschrieben in deren eigenen Worten”. Diese sind weitgehend positiv, wie eine von seiner Gruppe durchgeführte Befragung britischer Typ-1-Diabetiker mit konstantem Glukosemonitoring zeigte. Insgesamt wurden Interviews mit 50 Erwachsenen und 50 Kindern geführt. Die Patienten berichteten mehrheitlich von einer leichten Verbesserung des HbA1c und einer deutlichen Reduktion der Hypoglykämien, wobei besonders der Sicherheitsaspekt von vielen Befragten als befreiend empfunden wurde. Dies betraf einerseits nächtliche Hypoglykämien als auch die Kontrolle beim Sport. Als Negativum merkten einige der Studienteilnehmer an, dass ihnen die konstante Messung ihre schlechte glykämische Kontrolle vor Augen führe. Dr. Pickup: “Unsere Interviews zeigten auch, dass CGM nach wie vor nicht frei von Problemen und Herausforderungen ist, dass die Patienten diese jedoch verstehen und akzeptieren. Für viele ist CGM eine lebensveränderte, manchmal lebensrettende Erfahrung. Alles in allem sind die Reaktionen auf die konstante Glukosemessung sehr positiv.”
Closed Loop in klinischen Studien
Alles in allem ist die Technik des konstanten Glukosemonitorings zwar noch lange nicht perfekt, dabei jedoch schon so ausgereift, dass erste closed loop Systeme klinisch getestet werden. Diese verbinden CGM auf dem Weg über intelligente Steuerelektronik mit modernen Pumpen, die Insulin subkutan abgeben. Da sich solche Systeme im klinischen Setting als sicher erwiesen haben, laufen bereits erste home studies, mit denen die Alltagstauglichkeit evaluiert werden soll. Eine naheliegende Indikation ist dabei die nächtliche Blutzuckerkontrolle. Naheliegend insofern als einerseits nächtliche Hypoglykämien von vielen Diabetikern gefürchtete Komplikationen der Insulintherapie darstellen, andererseits aber gerade die nächtliche Insulinversorgung mangels Nahrungsaufnahme und körperlicher Anstrengung auch ein relativ einfaches Einsatzgebiet für das künstliche Pankreas darstellt.
Im Rahmen einer von Dr. Roman Howorka, Leiter der Pädiatrischen Abteilung an den Cambridge Metabolic Research Laboratories, vorgestellten Studie wurde in einem Crossover-Design der nächtliche Einsatz eines closed loop Systems im Vergleich zu CGM an jungen Typ-1-Diabetikern untersucht. Dabei erwies sich das geschlossene System als überlegen. Bei Einsatz des “künstlichen Pankreas” hatten die Probanden im Durchschnitt einen geringeren Zuckerspiegel, verbrachten dabei mehr Zeit im Zielbereich (3,9 – 8 mmol/l) und hatten sowohl weniger Hyper- als auch weniger Hypoglykämien. Dabei verbesserte sich die Einstellung auch insgesamt. Sowohl der durchschnittliche Zuckerspiegel über 24 Stunden als auch die Gesamtmenge des eingesetzten Insulins waren bei nächtlichem closed loop Einsatz etwas geringer. Diese Ergebnisse entsprachen weitgehend jenen, die in anderen vergleichbaren Untersuchungen in den vergangenen Monaten erzielt worden waren. Die Daten der ersten acht Patienten wurden 2012 veröffentlicht (1), die gesamte Studie wird in Kürze publiziert.
Erste ambulante Erfahrungen
Auf eine Reihe von Daten, die mit closed loop Systemen in den vergangenen Jahren und Monaten erhoben wurden, verweist auch Dr. Boris Kovatchev vom Center for Diabetes Technology der University of Virginia (2). An den Universitäten Padua, Montpellier und Virginia sowie am Sansum Diabetes Research Institute wurden insgesamt 21 Patienten mit einem über Smart Phone gesteuerten künstlichen Pankreas versorgt. Während die sich die europäischen Patienten dabei teilweise in der Klinik aufhielten, wurden die US-Studien zur Gänze außerhalb des Krankenhauses durchgeführt. Auch in diesen Populationen erwies sich das System als funktionstüchtig und war insgesamt 97,7% der möglichen Zeit in Betrieb, womit der primäre Endpunkt von 80% Systemfunktion erreicht wurde. Erreicht wurde dabei auch eine signifikante Reduktion der Hypoglykämien und eine verbesserte glykämische Kontrolle unter closed loop im Vergleich zu open loop. Dr. Kovatchev: “In allen Studien war closed loop besser als die sensorgestützte Pumpentherapie.”
An Einrichtungen in Slowenien, Deutschland und Israel wurden Studien mit einem closed loop System des DREAM (Diabetes Wireless Artificial Pancreas) Consortium durchgeführt. Probanden waren Typ-1-Diabetiker ab 10 Jahre. Nach dem erfolgreichen Probelauf in den Zentren (3,4) ging das Projekt mittlerweile auch bereits in die Phase der home studies, zu der erste Daten auch schon publiziert wurden (5). Nach aktuellem Stand haben 200 Probanden mehr als 1.200 Nächte mit dem System verbracht, wobei es zu keinen schweren Hypoglykämien oder anderen ernsten Komplikationen kam und eine Verbesserung der glykämischen Kontrolle mit Reduktion der Gypoglykämien gesehen wurde.
Für den Einsatz rund um die Uhr unter Bedingungen eines normalen Alltags muss das künstliche Pankreas noch eine wichtige Hürde bewältigen: Den korrekten Umgang mit körperlicher Anstrengung. In diesem Szenario kommen zwei Aspekte zum Tragen, die die Automatisierung der Insulininfusion erschweren: Einerseits kann es bei Bewegung zu relativ schnellen Veränderungen des Blutzuckerspiegels kommen, bei denen die Trägheit der kontinuierlichen Messung Probleme bereitet, andererseits hat Anstrengung auch Einfluss auf die Insulinwirkung und insulinunabhängige Glukoseverwertung. Um diesen komplexen Zusammenhängen gerecht werden zu können, wird unter anderem an Algorithmen gearbeitet, die neben den Ergebnissen der konstanten Glukosemessung auch die Herzfrequenz und andere physiologische Parameter in die Berechnung des Insulinbedarfs einbeziehen. Solche Algorithmen werden zur Zeit in silico simuliert, wie Dr. Basu berichtet. Zu allem Überfluss sollte ein funktionsfähiges System, das den Schritt in klinische Studien schafft, auch in der Lage sein, auf individuelle Besonderheiten einzugehen.
1) Elleri D et al. Pediatr Diabetes. 2012 Sep;13(6):449-53
2) Kovatchev BP et al. Diabetes Care. 2013 Jul;36(7):1851-8
3) Nimri R. et al. Pediatr Diabetes. 2013 May;14(3):159-67
4) Phillip M et al. N Engl J Med. 2013 Feb 28;368(9):824-33
5) Nimri R. et al. Pediatr Diabetes. 2013 Aug 15. doi: 10.1111/pedi.12071. [Epub ahead of print]
Quellen:
Plenary Session “Closing the Loop” und Parallel Session “Pumps and Sensors” im Rahmen der Conference on Advanced Technologies and Treatments for Diabetes (5.-8. Februar 2014, Wien)