15. Sep. 2021ÖGAM-Leitlinie Long Covid

Pacing: Wege aus Long Covid

Acht Fachgesellschaften haben mitgearbeitet: Die von der ÖGAM initiierte „Long COVID“-Leitlinie S1 richtet sich vor allem an hausärztliche Primärversorger. Etwa zehn bis 14 Prozent der SARS-CoV-2-Infizierten – demnach bisher 70.000 bis 100.000 Personen – waren bzw. sind betroffen. Besonders Jüngere und Frauen, betonte ÖGAM-Vizepräsidentin Dr. Susanne Rabady Ende Juli bei der Präsentation mit Gesundheitsminister Dr. Wolfgang Mückstein. In der Therapie sei „Pacing“ hilfreich, erklärt Dr. Michael Stingl und gibt Tipps, wie es gelingen kann.

Reihe von Steinen in ruhigem Wasser im weiten Ozeankonzept der Meditation - 3D-Darstellung
iStock/peterschreiber.media

Wegen seiner langjährigen Erfahrung hatte die Österreichische Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (ÖGAM) den Wiener Neurologen eingeladen, begleitend zur Leitlinie einen Podcast über das Pacing zu machen. Doch der Reihe nach: Am 22. April, noch unter dem Eindruck der dritten Welle, informierten die ÖGAM und die Österreichische Gesellschaft für Pneumologie (ÖGP) in einer gemeinsamen Aussendung, dass für viele Menschen COVID-19 nach der eigentlichen akuten Phase nicht ausgestanden sei.

„Kaum abhängig von Alter und Risikofaktoren“

Schwer an Corona erkrankte Personen würden lange an den Folgen leiden, die die Erkrankung an ihren Organen hinterlassen hat. „Aber auch viele Menschen, die leicht oder mittelschwer erkrankt waren, berichten über langanhaltende, teils stark einschränkende Beschwerden: kaum abhängig von Alter und Risikofaktoren“, informierten damals Rabady und Dr. Ralf Harun Zwick von der ÖGP.

Österreichische Zahlen würden zeigen, dass 10–14 Tage nach Erkrankungsbeginn noch fast 50 Prozent der Betroffenen nicht frei von Symptomen seien, ein „beträchtlicher Teil“ hätte sogar monatelang anhaltende Krankheitszeichen. Auch damals wurde das „Fatigue-Syndrom“ erwähnt, in einem Zug mit bekannter Leistungsminderung aufgrund von Lungen-, Kreislauf- und Herzproblemen sowie neurologischen Störungen, dazu teils sehr belastende Geschmacks- und Geruchsstörungen, Hauterscheinungen, psychische Störungen u.v.m.

Daher habe sich eine „multidisziplinäre Arbeitsgruppe“ gebildet, um das vorhandene Wissen zu sichten und zu sammeln und in einer gemeinsamen Leitlinie zur Diagnostik, Behandlung, Betreuung und Rehabilitation der Patienten in hoher Qualität vorzulegen.

Ende Juli war es dann so weit, gemeinsam mit BM Mückstein wurde die S1-Leitlinie präsentiert – samt Appell zur Impfung. Denn es gebe mehr jüngere Infizierte und vor allem diese und Frauen würden an teils schweren Langzeitfolgen erkranken, „selbst wenn sie nicht im Spital landen“, spricht Mückstein von einem „hohen Risiko“ für Long Covid.

„Praktischer Arzt“ weist zu

Zunächst gehe es in der Leitlinie um das Erkennen eines Zusammenhanges mit der SARS-CoV-2-Infektion und des Ausmaßes von Long Covid, erläutert Rabady. Der Leitfaden helfe aber auch zu entscheiden, ob und wann eine weitere Abklärung notwendig ist. Der „praktische Arzt“ weise dann einer fachspezifischen Betreuung zu, sagt Zwick, Ärztlicher Leiter der Ambulanten Internistischen Rehabilitation der Therme Wien, wie z.B. dem Kardiologen bei einer Herzmuskelentzündung oder dem Pulmologen bei Lungenbeschwerden. In der Rehabilitation gehe es um das „Pacing“, um das Finden eines „Schrittmachers“, wodurch „große Erfolge“ erzielt werden könnten.

Bei diesem Thema wurde nun Stingl als Spezialist ins Boot geholt. Er beschäftige sich schon seit längerer Zeit mit postviraler Fatigue bzw. ME/CFS und „dadurch eigentlich auch von Anfang an mit Long Covid“, wie er einleitend im ÖGAM-Covid-Infotalk zum Pacing ausführt. Es gebe bei Long Covid viele Aspekte, „die wir noch nicht wissen – und ein für viele Kolleginnen und Kollegen ein neues Konzept, nämlich dieses Pacing“. Dabei handle es sich um eine Strategie, eine „Balance“ zwischen Aktivität und Erholung zu finden: „Viele Leute, die postvirale Fatigue oder eben jetzt Long Covid haben, leiden an einer  Verschlechterung ihres Zustandes, wenn sie sich überanstrengen. Mit Pacing soll darauf abgezielt werden, dass diese Verschlechterung nicht eintritt.“

Dabei geht es nicht nur um körperliche Aktivität, sondern genauso um kognitive Aktivitäten, „die das Hirn beanspruchen. Das können auch simple Sachen sein, wie Fernsehen oder am Handy Nachrichten zu schreiben oder Gespräche zu führen.“ Als Herausforderung bezeichnet Stingl dabei, dass Pacing als Therapie absolut gegen die Intention von Ärztinnen und Ärzte sei: „Wir sind es gewohnt, dass bei fast allen Erkrankungen eine Trainingstherapie gut und förderlich ist.“ Sei es bei Fatigue als Begleiterscheinung von vielen Erkrankungen wie Depressionen, Rheuma, Multiple Sklerose, „da hilft ja die Trainingstherapie auch. Ich war selber lang an einer neurologischen Rehabilitation tätig und ich kenne dieses Konzept.“

Aber auch für die Patienten ist das Konzept des Pacing gegen ihre Intuition. „Patienten fällt es schwer, diese Grenzen wirklich einzuhalten“, damit es nicht zu einer Verschlechterung durch Überbeanspruchung komme. Und: „Primär soll Pacing als Grundkonzept bei der Behandlung von Long Covid dazu beitragen, dass sich der Zustand stabilisiert.“

Ein rezent publizierter Kommentar fasse das Pacing gut zusammen: Man sollte nicht über bestimmte Grenzen drübergehen, wenn man bemerkt, dass dies zu einer Verschlechterung des Zustandes führt: „Pacing bedeutet, dass man ausreichend Pausen und Erholung einplanen soll, und Pacing bedeutet auch, dass man die Aktivitäten des täglichen Lebens auf eine Art organisiert und einteilt, dass eben diese Grenzen eingehalten werden können.“

Wann „Pacen“: Bei Post Exertional Malaise

„Pacen“ sollte man vor allem bei Erkrankungen, wo es zu einer sogenannten Post Exertional Malaise (PEM) kommt. Wie eben bei Long Covid oder ME/CFS. PEM bedeutet: „Wenn man über eine Grenze geht – und diese Grenze kann oft sehr eng sein, das können sehr banale Aktivitäten des Alltags sein – dann kommt es zu einer deutlichen Verschlechterung des Zustandes. Dann können vorbestehende Symptome zunehmen, oft kann ein Krankheitsgefühl auftreten, eine allgemeine Schwäche oder Schmerzen.“

Das Problem bei PEM sei, dass sie teilweise erst mit einer gewissen Verzögerung auftreten kann: „Viele Leute bemerken es in der Aktivität gar nicht, sondern erleben erst nach 24 bis 48 Stunden einen richtigen Zusammenbruch.“

Und so funktioniert Pacing:

  • Muster erkennen: Man muss die Muster bzw. Aktivitäten, die zu einer Verschlechterung führen, erkennen. Das können körperliche Dinge sein wie Haushalt, Arbeiten gehen, Sport. Das können aber auch kognitive Aktivitäten sein, wie eben Fernsehen, Gespräche führen, Lesen. Helfen könnten Aktivitätstagebücher oder auch Apps, sodass man an schlechten Tagen nachschauen könne, was man einen Tag davor gemacht hat. „Ein gutes Hilfsmittel ist auch ein Schrittzähler, viele Leute können das anhand der gemachten Schritte ablesen, wann es zu viel war.“
  • Prozesse hinterfragen: Es sei auch wichtig zu erfragen, was konkret Erholung/Rasten für den Patienten bedeutet. Erholen ist teilweise ein aktiver Prozess, auch Fernsehen z.B. könne eine kognitive Aktivität bedeuten.
  • Stigmatisierung durchbrechen: „Man muss auch thematisieren, dass mit einer Fatigue auch Schuldgefühle verbunden sein können. Leider wird nach wie vor Fatigue oft mit 'crazy or lazy', also mit 'psychisch krank' oder Faulheit in Verbindung gebracht.“ Dieses Stigma führe auch dazu, dass das Umfeld dies oft nicht ernst nimmt, weil die Leute auf den ersten Blick nicht wirklich krank ausschauen.
  • Richtige Planung: Wichtig ist die Planung von Aktivitäten zu „portionieren“. Man bemerkt, dass oft weit mehr möglich ist, wenn man rechtzeitig Pausen einplant, z.B. wenn man die Hausarbeit „in kleine Häppchen“ aufteilt anstatt sich „durchzuzwingen“.
  • Puffer einplanen: Wichtig ist das Einplanen von Puffer für ungeplante Ereignisse, etwa plötzliche Arztbesuche, Abholen von Kindern.
  • Entspannungstechniken: Wichtig ist, an Entspannungstechniken zu arbeiten, die sehr wohltuend sind. Atemtechniken z.B. können Stresslevel herunterbringen.
  • Zum Thema machen: Wichtig ist auch, dass man die psychischen Belastungen, die mit diesen Einschränkungen einhergehen, thematisiert und auch entsprechend behandelt und den Patienten entsprechende Unterstützung dafür anbietet.

Schuldgefühle: „Akzeptanz ist der Schlüssel“

Was den Punkt „Schuldgefühle“ bzw. den Umgang damit betrifft: „Ich sage den Patientinnen und Patienten immer, dass Pacing komplett gegen die Intuition ist, weil man es aus dem eigenen Erleben und letztendlich ja auch von quasi jeder anderen Erkrankung genau gegenteilig kennt. Das validiert dann hoffentlich das eigene Empfinden und macht das Konzept ein bisschen verständlicher“, betont Stingl gegenüber medonline, „aber Akzeptanz ist der Schlüssel.“ Er sage den Patienten auch, dass es der PEM egal ist, ob man sie gut oder schlecht findet, sie ist da.

Es sei zum Abschluss auch wichtig zu sagen, so Stingl im Podcast, dass die Leute natürlich Konzentrationsprobleme und Aufmerksamkeitsprobleme haben, d.h. man müsse in der Erklärung dieser Dinge möglichst kurz und präzise sein, um nicht zu überfordern und es zahlt sich immer aus, den Patienten z.B. Links (siehe Kasten) mitzugeben, dass sie sich dann in Ruhe zuhause in für sie passenden Portionen über dieses Thema informieren können. Nachsatz: „Es ist nicht leicht, es ist schwierig, es ist frustrierend, aber es ist definitiv eine Sache, die sowohl bei Long Covid als auch bei ME/CFS zur Stabilisierung und damit mittelfristig auch zu einer Besserung des Zustandes beitragen kann.“

Hilfsmittel zum Pacing gibt es einige. Sehr bewährt hat sich laut Stingl die Herzfrequenz mit folgender Formel:

(220 – Lebensalter) x 0,6 = maximale Herzfrequenz

Manche nehmen auch 50 Prozent für die Berechnung der maximalen Herzfrequenz her: „Im Zweifelsfall ist es besser, etwas konservativer zu sein, und wenn man bemerkt, dass es mit dieser Herzfrequenz gut funktioniert, kann man etwas nach oben titrieren – anstatt sie zu hoch anzusetzen und gleich wieder Verschlechterung zu provozieren.“ Diese Herzfrequenz ist oft überraschend niedrig, und das sei für die Leute „frustrierend“, weil sie sehr schnell bei dieser Herzfrequenz sind und eine Pause machen müssen, „aber das bewährt sich wirklich sehr“.

Man könne sagen: „Das ist ein Richtwert, wenn Sie 110 Herzfrequenz haben, ist das der Punkt für eine Pause.“ Gerade an guten Tagen soll man immer wieder auf die Pulsuhr schauen oder sich einen Alarm setzen, um aktiv eine Pause zu machen, bis sich die Herzfrequenz wieder beruhigt.

Die Herzfrequenz ist auch deswegen ein guter Marker, weil die Leute bemerken, dass in der Nacht oder dem Tag nach der Überanstrengung in der Früh der Puls in Ruhe deutlich höher ist als normalerweise. Bei kognitiver Aktivität ist jedoch der Puls oft nicht deutlich erhöht, trotzdem ist es wichtig, Pausen einzulegen, also beispielsweise nicht eine Stunde am Computer zu arbeiten, sondern vielleicht nur eine halbe Stunde.

Es sei auch so, dass PEM bei kognitiver Überanstrengung anders ausschaue als bei körperlicher Anstrengung: Man habe ein benebeltes Gefühl, Konzentrationsprobleme, Kopfschmerzen usw. Ebenso relevant für das Pacing ist es, Begleitprobleme zum Steigern der Grenze zu behandeln, „das ist aus meiner Sicht die autonome Dysfunktion, vor allem der Kreislauf“. Es zahle sich aus, bei jedem Patient mit Long Covid oder anderen postviralen Fatigue-Syndromen einen Schellongtest zu machen, „Sie werden überrascht sein, wie viele Leute da eine Auffälligkeit in der Kreislaufregulation haben“.

Man kann den Patienten den Schellongtest auch erklären, damit sie ihn selber in Ruhe zuhause durchführen können: „Das funktioniert in meiner Erfahrung extrem gut.“ Ein weiterer relevanter Punkt ist das sogenannte Mastzellenaktivierungssyndrom: Ihm sei klar, dass das nicht ganz unumstritten ist, aber es zahle sich aus, darüber nachzulesen, „auch hier werden Sie überrascht sein, wie viele Leute davon profitieren, wenn Sie ihnen Antihistaminika verordnen“. Das sei auch etwas, womit man die Grenze nach oben schieben könne und das Pacing wesentlich erleichtere.

Hilfreiche Links:

https://longcovid.physio/pacing

Pacing | ME/CFS & Fibromyalgia Self-Help (cfsselfhelp.org)

Managing Post-Exertional Malaise (PEM) in ME/CFS (cdc.gov)

https://workwellfoundation.org/wp-content/uploads/2020/09/Top-Energy-Saving-Tips.pdf

Weitere Informationen auf http://www.neurostingl.at/