Forschung jenseits von Amyloid und Tau
Die Suche nach wirksamen Therapien gegen Morbus Alzheimer und andere Demenzformen war in den vergangenen Jahren von Fehlschlägen geprägt. Während aktuell die Phase-III-Studien noch immer von gegen Amyloid oder Tau gerichteten Therapien geprägt sind, werden in frühen Phasen der klinischen Entwicklung zahlreiche innovative Ansätze verfolgt – zum Teil mit sehr alten Substanzen. (CliniCum neuropsy 2/20)
Die große Mehrzahl der Therapie-Studien zum Morbus Alzheimer fokussiert auf Amyloid- und Tau-Targets. Allerdings waren die Erfolge in den vergangenen Jahren minimal. Das hat Konsequenzen. Prof. Dr. Jeffrey Cummings vom Neurologischen Institut der Cleveland Clinic betont, dass ein Blick auf die Studienlandschaft zeige, dass bei den Substanzen in Phase I und II Amyloid und Tau bereits eine deutlich untergeordnete Rolle spielen. Insgesamt finden sich in der „Alzheimer-Pipeline“ gegenwärtig 121 Substanzen, von denen 81 weder bei Amyloid noch bei Tau ansetzen.
In Phase III befinden sich aktuell 39 Substanzen bzw. monoklonale Antikörper, etwas mehr als die Hälfte davon soll eine krankheitsmodifizierende Wirkung haben (DMTs), der Rest sind neuropsychiatrische Medikamente oder Substanzen, die im Sinne einer symptomatischen Therapie die Kognition verbessern sollen. Rund ein Drittel der DMTs in Phase III richten sich gegen Amyloid, die restlichen Kandidaten gegen eine Vielzahl unterschiedlicher Ziele. Inflammation und Infektion sollen ebenso beeinflusst werden wie Tau oder die Neuroplastizität. Bei den Substanzen in Phase II handelt es sich zu 95 Prozent um DMTs – zum Teil mit neuen, wie z.B. epigenetischen, Zielen.1
Systematisierung der Alzheimer-Forschung
Die „Common Alzheimer’s Disease Research Ontology“ (CADRO) wurde vom National Institute on Aging am National Institute of Health in Zusammenarbeit mit der Alzheimer’s Association ins Leben gerufen und soll die weltweite Forschung zu Alzheimer-Therapien koordinieren helfen.2 Ursprünglich standen hinter der Gründung von CADRO, so Cummings, weniger praktische Überlegungen, sondern das Bedürfnis, Ziele und biologische Pathways in der Alzheimer-Forschung zu definieren und zu ordnen. Diese Pathyways sind: Amyloid, Tau, Präseniline, Apolipoprotein E und Lipide, Gehirn-Topologie und Synapsen, Zelltod, Immunität und Inflammation, Bioenergetik, vaskuläre/metabolische Faktoren, Hormone, Genetik und epigenetische Regulatoren. Cummings betont die Bedeutung dieser zahlreichen und vielversprechenden Strategien, obwohl sie noch lange nicht in jenem Maß in der öffentlichen Wahrnehmung angekommen sind wie die Amyloid- und Tau-Therapien.
Mit dem Scheitern zahlreicher Amyloid- und Tau-Studien gewinnen eben diese alternativen Ziele zunehmend an Bedeutung. Doch nicht für jedes potenzielle Ziel gibt es bereits Therapien in Studien. Cummings weist darauf hin, dass auch wichtige Pathways noch keinen Eingang in die klinische Medikamentenforschung gefunden haben. So hat sich die genetische E4-Variante von Apolipoprotein E – insbesondere in Kombination mit erhöhtem LDL – als wichtigster Demenz-Risikofaktor nach dem Alter erwiesen. Es laufen allerdings keine klinischen Studien, die hier ansetzen. Im Gegensatz dazu wird Inflammation verstärkt beforscht und zahlreiche antiinflammatorische Substanzen befinden sich gegenwärtig in Phase II. Auch Neuroprotektion und synaptische Plastizität spielen bereits eine wichtige Rolle und gewinnen weiterhin an Bedeutung, wie die regelmäßigen Berichte von CADRO zeigen, die die „Dynamik der Pipeline spiegeln“. Auch das Interesse an Inflammation und Infektion steigt.1
Alte Bekannte
Beforscht werden einerseits neue Substanzen mit innovativen Wirkmechanismen, daneben aber auch altbekannte und seit Jahrzehnten zugelassene Medikamente, von denen man sich einen Zusatznutzen in der Prävention und/oder Therapie des Morbus Alzheimer verspricht. In der Neuroprotektion ist Innovation gefragt. Hier werden beispielweise Substanzen mit noch sehr technischen Namen wie AMX0035, AUS-131 und MP-101 untersucht, die in den Energiehaushalt der Mitochondrien eingreifen sollen. Ebenfalls in die Kategorie Neuroprotektion fällt der Glutamat-Rezeptor-Antagonist Riluzol, der bereits bei ALS eingesetzt wird. Auch PDE3-, 4- und 5-Inhibitoren werden als möglicherweise neuroprotektive Substanzen untersucht.
In Phase II befindet sich Neflamapimod, ein zunächst in der Rheumatologie beforschter Inhibitor einer Stress-Kinase, von dem man sich protektive Wirkungen auf die Synapsen erhofft. Positive Phase-II-Daten bei Mild Cognitive Impairment wurden für Traneurocin berichtet, eine endogene Substanz mit vermutlich neuroprotektiven Effekten. Mit dem Ziel, Inflammation zu reduzieren, werden auch seit Langem bekannte Substanzen in der Indikation Morbus Alzheimer beforscht. Teilweise sogar extrem alte Substanzen wie eine Kombination des Mastzellstabilisators Cromolyn (des ersten zugelassenen Anti-Asthmatikums überhaupt) mit Ibuprofen. Wie in der Asthma-Therapie wird Cromolyn mit einem Trockenpulver-Inhalator appliziert.
Der historische Mix befindet sich in der Indikation Alzheimer in einer Phase-III-Studie, die Ende 2020 abgeschlossen sein soll. Ebenfalls aus der Asthma-Therapie kommt der Leukotrien-Rezeptor-Antagonist Montelukast für den bei einer Datenbanken-Analyse ein möglicher protektiver Effekt gegenüber Demenz gefunden wurde.3 Weitere Untersuchungen zeigten, dass Montelukast die Blut-Hirn-Schranke durchdringt. Eine Phase-II-Studie soll in diesem Jahr abgeschlossen werden. Auch der in der Therapie des multiplen Myeloms eingesetzte Immunmodulator Lenalidomid ist ein Kandidat für die Alzheimer-Therapie.
Das Darmmikrobiom in der Alzheimer-Therapie
Auch das Darmmikrobiom kommt mittlerweile als Ziel für die Alzheimer-Therapie infrage. Konkret wird versucht, die bakterielle Besiedelung durch das ausschließlich lokal im Darmlumen wirksame bakterizide orale Breitbandantibiotikum Rifaximin zu beeinflussen, wovon man sich einen antiinflammatorischen Effekt erwartet. Eine von der Duke University durchgeführte Pilotstudie läuft. Am Darmmikrobiom setzt auch Oligomannat (GV-971) an, das in China 2019 zur Alzheimer-Therapie zugelassen wurde. Es war dies weltweit die erste Zulassung in der Indikation Morbus Alzheimer seit 2003.
Die antiinflammatorische Wirkung von GV-971 beruht auf Inhibition von Metaboliten verschiedener Darmbakterien, denen proinflammatorische Effekte im ZNS nachgesagt werden. In einer chinesischen Phase-III-Studie führte GV-971 zu einer über 36 Wochen anhaltenden kognitiven Verbesserung gegenüber Placebo (ADAS-cog), während andere Endpunkte nicht beeinflusst wurden.5 Dieser Erfolg war für eine Zulassung in China ausreichend. Nun soll GV-971 in einer globalen Phase-III-Studie untersucht werden. In einer Phase-II-Studie wird aktuell auch versucht, mit dem Immunstimulator Sargramostim Makrophagen zum Abräumen von Beta-Amyloid-Plaques zu bewegen. Klinisch und systematisch untersucht wird auch die Kombination von Curcumin und aerobem Yoga, die den oxidativen Stress im ZNS reduzieren soll. Und auch Holunderblütensaft könnte aufgrund seiner antioxidativen Wirkungen Potenzial in der Alzheimer-Behandlung haben.
Ein relativ neues Ziel in der Alzheimer-Forschung ist Infektion. Im Gehirn persistierenden HSV-1-Herpes-Viren wird zumindest hypothetisch eine Rolle in der Alzheimer-Pathologie zugesprochen.4 Das generische Virostatikum Valcyclovir wird in mehreren Studien in der Indikation Alzheimer untersucht, die Ergebnisse der ersten Pilotstudie werden in Kürze erwartet. Auch das für Parandontitis verantwortliche Bakterium P. gingivalis wird angeschuldigt, zumindest die Progression der Alzheimer-Erkrankung zu beschleunigen. Mit dem Small Molecule COR388 werden Gingipaine, von P. gingivalis produzierte und in den Gehirnen von Alzheimer-Patienten nachweisbare Enzyme inhibiert. Eine multizentrische Phase-II/III-Studie läuft.
Risikofaktoren beeinflussen
Sowohl der Insulin-Metabolismus als auch der Insulin-Rezeptor sind in der Alzheimer-Forschung von Interesse. Dies umso mehr, als aus der Diabetes-Therapie eine Vielzahl von Substanzen zur Verfügung steht, die in den Insulin-Metabolismus eingreifen. Cummings nennt Liraglutid und Dapagliflozin, die die mit Alzheimer assoziierte metabolische Dysfunktion bessern sollen. Auch Metformin könnte Potenzial haben, da es als Insulin-Sensitizer die neuronale Glukose-Utilisation verbessert. Angesichts der häufigen vaskulären Komorbiditäten von M. Alzheimer bzw. der Häufigkeit gemischter Demenzen sind auch Therapien von Interesse, die die vaskuläre Situation verbessern können. Das sind zum Beispiel die AT2-Rezeptorblocker Candesartan und Telmisartan sowie das orale Antikoagulans Dabigatran.
Untersucht werden Einzelsubstanzen und bewährte Kombinationen, darunter jene aus Losartan, Amlodipin und Atorvastatin in Verbindung mit Bewegung. Im Gegensatz dazu stellen Therapien, die in die epigenetische Regulation eingreifen, einen völlig neuen Ansatz – nicht nur in der Alzheimer-Therapie – dar. Solche Interventionen setzen beispielsweise bei der DNA-Methylierung oder der Histon-Modifikation an. Möglicherweise könnten in Zukunft, so Cummings, Therapien mit innovativen Wirkmechanismen mit den gegen Amyloid oder Tau gerichteten Medikamenten erfolgreich kombiniert werden.
Referenzen:
1 Cummings J et al., Alzheimers Dement (NY) 2019; 5:272–293
2 Refolo LM et al., Alzheimers Dement 2012; 8(4):372–5
3 Grinde B, Engdahl B, Immun Ageing 2017; 14:20
4 Itzhaki RF, Front Aging Neurosci 2018; 10:324
5 Wang X et al., Cell Res 2019; 29(10):787–803
Plenary Session 1 im Rahmen des virtuellen AAT-AD/ PD™ 2020 Meeting, 2.4.20