„Österreich ist klein genug für gute Kooperationen“
Seit rund eineinhalb Jahren ist Univ.-Prof. Dr. Thomas Berger Leiter der Universitätsklinik für Neurologie in Wien. Der auf Neuroimmunologie spezialisierte Arzt und Wissenschaftler unterstreicht die Bedeutung der Vernetzung universitärer Forschungszentren, innerhalb seines Teams fördert er vor allem Spezialisierungen. (CliniCum neuropsy 2/20)
CliniCum neuropsy: Herr Professor Berger, Sie waren zuletzt Leiter der Arbeitsgruppe Neuroimmunologie und Stv. Klinikdirektor in Innsbruck. Was hat sich mit der Leitungsfunktion an der Wiener Universitätsklinik für Sie persönlich am meisten verändert?
Thomas Berger: Der Verantwortungsbereich ist jetzt ein anderer und zugleich wesentlich größerer geworden. Sicher hatte ich bereits als Stv. Klinikdirektor in Innsbruck viele meiner jetzigen Aktivitäten in ähnlicher Weise auszuführen – neu ist nun aber, dass ich für alle Entscheidungen letztverantwortlich bin. Die damit einhergehende größere Gestaltungsmöglichkeit war offen gesagt einer der Anreize für die Bewerbung um diese Position.
Ihr Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der Biomarker-Forschung bzw. in der Neuroimmunologie, die Sie nun hier in Wien weiter ausbauen. Welche Fortschritte konnten auf diesem Gebiet in den letzten Jahren erreicht werden?
Bei der Antwort auf diese Frage möchte ich die strukturelle und die konzeptionelle Seite beleuchten: Was die Strukturen angeht, so denke ich: Österreich ist klein genug, um gute Zusammenarbeiten zu fördern. Es gibt nach wie vor ein sehr erfolgreiches Team in Innsbruck sowie jenes in Graz mit unterschiedlichen Schwerpunkten in der Forschung. Im klinischen Bereich versorgen wir gemeinsam rund 60 Prozent aller österreichischen MS-Patientinnen und Patienten und gewinnen von ihnen laufend viele klinische Daten. Damit haben wir einen Riesenschatz zur Verfügung, mit dem wir verschiedene Forschungsfragen intensiv verfolgen können. Speziell hier in Wien habe ich mich in den letzten eineinhalb Jahren darum bemüht, die Biomarker-Forschung weiter voranzutreiben.
Wiener Forschungserfolg in der Neurologie
Dass es vor Kurzem erstmals möglich wurde, nicht-invasiv in alle Bereiche des Gehirns einzudringen und Nervenzellen zu aktivieren, ist einem Wissenschaftler-Team unter der Leitung von Ao. Univ.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Roland Beisteiner an der Wiener Univ.-Klinik für Neurologie zu verdanken. Anfang des Jahres von Beisteiner et al. publizierte Daten zeigen, dass sich mit der transkraniellen Pulsstimulation mit Ultraschall (TPS) die Leistung des Gehirns tatsächlich verbessern lässt. „Es ist, als ob man einen alten Motor wieder anwirft. Jene Nervenzellen, die noch aktivierbar sind, zeigen nach der Anwendung deutliche Verbesserungen. Dadurch wird der Leistungsabfall gebremst“, sagte Beisteiner anlässlich der Publikation.
Der TPS-Puls führt zu kurzfristigen Membranveränderungen an den Hirnzellen, wodurch die Konzentration von Transmittern und anderen biochemischen Stoffen lokal verändert wird. In Laborstudien konnte bereits gezeigt werden, dass damit eine Aktivierung von Nervenzellen und der Aufbau kompensatorischer Netzwerke erreicht werden kann. In der Folge wird das Gedächtnisnetzwerk angetrieben und die Gedächtnisleistung steigt. Der Studie von Beisteiner et al. zufolge berichteten Patienten auch von deutlicher Stimmungsverbesserung. Mögliche Einsatzbereiche der TPS sind Erkrankungen wie Morbus Alzheimer, Parkinson oder Multiple Sklerose sowie alle Erkrankungen, die sich durch die Aktivierung noch funktionierender Nervenzellen verbessern lassen.
Laut Beisteiner bedeutet dies eine „Zusatzchance“ für die Betroffenen, da alle laufenden Therapien mit Medikamenten, Physio- und Ergotherapie weitergeführt werden. Die MedUni Wien verweist in einer Presseaussendung sogar darauf, dass klinische Neurowissenschaftler von einem „Durchbruch“ bei der Behandlung von Hirnerkrankungen sprechen, sollten sich die Ergebnisse der Pilotstudie bestätigen. Erfreut ist Klinik-Chef Univ.-Prof. Dr. Thomas Berger über die Leistungen der Arbeitsgruppe: „Mit dieser Publikation von Kollegen Beisteiner und seinem Team konnten wir hier an der Klinik in Wien sicher einen gewissen wissenschaftlichen Vorsprung erarbeiten. Überhaupt ist die Ultraschallmethode sehr attraktiv für viele Anwendungen auch in der Neurologie.“ Bis vor Kurzem war allerdings die Schädeldecke limitierend für deren diagnostischen oder therapeutischen Einsatz. Dank neuer Technologien konnte dieses Hindernis nun im wahrsten Sinne des Wortes überwunden werden, so Berger.
Welche neuen Erkenntnisse erwarten Sie sich zu rezenten Veröffentlichungen betreffend der Rolle von Neurofilamenten?
Neu und sehr wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass es nun eine verlässliche Messmethode zur validen Bestimmung von Neurofilamenten gibt. Diese Methode steht derzeit nur in Graz und Wien zur Verfügung, wobei die beiden Universitätskliniken für Neurologie eng zusammenarbeiten. Gemeinsam haben wir allerdings noch eine Reihe von Hausaufgaben zu machen, etwa die Definition von Normbereichen mithilfe Alters-gematchter Kontrollen. Kollege Khalil aus Graz hat dazu jüngst einen wichtigen Beitrag publiziert und gezeigt, dass die Werte von Neurofilamenten auch sehr altersabhängig sind. Jetzt müssen wir herauszufinden, ab welchem Bereich diese Werte pathologisch sind bzw. wie aussagekräftig die Werte für die verschiedene Erkrankungen sind.
Bekannt ist seit Langem, dass eine Freisetzung von Neurofilamenten nicht nur bei MS, sondern auch bei anderen neurologischen bzw. neurodegenerativen Erkrankungen eine Rolle spielen könnte. Ein diesbezüglich erster Schritt ist die ganz aktuelle Publikation von Dr. Altmann aus meinem Team über die prognostische Aussagekraft von Neurofilamenten beim Guillain-Barré-Syndrom. Ich kann mir also gut vorstellen, dass wir zukünftig bei vielen anderen neurologischen Erkrankungen wichtige diagnostische bzw. prognostische Informationen etablieren könnten.
In der Lehre legen Sie Wert darauf, genderspezifische Aspekte in der Neurologie zu vermitteln. Worum geht es Ihnen dabei konkret?
Bei dieser Frage kommen wir unweigerlich zur MS: Abgesehen von seltenen neurologischen Erkrankungen, die nur während der Schwangerschaft auftreten, ist MS mit einem Geschlechter-Verhältnis von 4:1 die häufigste neurologische Erkrankung bei Frauen. Zur Zeit meiner Ausbildung sind wir übrigens noch von einem Verhältnis von 2:1 zwischen an MS erkrankten Frauen und Männern ausgegangen. Dass bedeutet, die Zunahme der MS weltweit ist eine Zunahme bei Frauen! Über die genauen Ursachen können wir heute aber eher spekulieren als handfeste Belege dafür zu haben. Fest steht allerdings, dass Frauen ein anderes Immunsystem haben als Männer, sonst würde das weibliche Immunsystem während einer Schwangerschaft das ungeborene Kind ähnlich wie ein Transplantat abstoßen.
Damit lässt sich zum Teil erklären, warum es bei Frauen eher zu einer Überreaktion des Immunsystems bei bestimmten Autoimmunerkrankungen kommen kann. Auch gewisse, mit dem gesellschaftlichen Wandel einhergehende Lifestyle-Faktoren könnten auf epigenetischer Ebene Einfluss auf das (weibliche) Immunsystem nehmen. Zudem haben sich die diagnostischen Kriterien verändert: war früher die Diagnose MS erst nach dem zweiten Schub zulässig, so genügt heute einer – und das bedeutet, wir erfassen damit auch leichtere Fälle.
Was bedeutet der Zusammenhang zwischen dem weiblichen Immunsystem und Autoimmunerkrankungen im Hinblick auf eine Schwangerschaft?
Hier müssen wir genau unterscheiden, welcher Teil des Immunsystems betroffen ist: Sind es eher B-Zell-mediierte Antikörper-Reaktionen oder eher T-Zell-mediierte Abwehrreaktionen? Während beispielsweise die Antikörpermediierte Neuromyelitis optica während einer Schwangerschaft das Risiko einer Krankheitszunahme birgt, sehen wir bei der überwiegend T-Zell-mediierten MS, dass eine Schwangerschaft sogar protektiv gegenüber Krankheitsschüben wirkt. Wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse dazu haben wir übrigens wiederum aus gemeinsamen Datenbanken erhalten und glücklicherweise hat sich das Bewusstsein dahingehend auch in der Geburtshilfe verändert: Noch vor nicht allzu langer Zeit wurde MS-Patientinnen sogar angeraten, eine Schwangerschaft zu terminisieren. Heute wissen wir, dass eine Schwangerschaft für Frauen mit MS überhaupt kein Risiko darstellt. Ich selbst rege immer an, schwangeren Patientinnen entsprechende Arztbriefe für die Kolleginnen und Kollegen in der Geburtshilfe zu geben, um darauf nochmals hinzuweisen.
Wir sehen daran, dass die Neurologie ein sehr breites Fach ist, das zugleich viel an Spezialisierung erfordert. Wie kann in der Aus- und Fortbildung die Balance zwischen der Breite des Wissens und der nötigen Tiefe erreicht werden?
Da möchte ich auf die gemeinsame Grundlage der Neurologie verweisen: die neurologische Untersuchung, die sich im Grunde seit jeher praktisch kaum verändert hat. Durch eine genaue Anamnese, durch Zuhören und Nachfragen zu den von den Patienten vorgebrachten Beschwerden und dem neurologischen Status bekommen wir bereits 50 Prozent aller für die Diagnose nötigen Informationen. Weitere wichtige Hinweise erhalten wir durch Zusatzuntersuchungen wie bildgebende Verfahren, wobei etwa die MRT-Technik in den letzten Jahren enorm verfeinert wurde. Dennoch – und das betone ich immer wieder in der Lehre und in der Ausbildung – müssen wir uns auf das verlassen, was wir selbst neurologisch untersucht haben und daraus die richtigen Schlüsse ziehen.
In naher Zukunft wird sicher auch die personalisierte Medizin verstärkt Einzug in die Neurologie halten, die uns zusätzlich diagnostische und therapeutische Möglichkeiten geben wird. Ein Beispiel dafür ist die Autoimmunenzephalitis, die noch vor zwei Jahrzehnten völlig unbekannt war, wo wir aber heute durch exakte Antikörper-Bestimmungen die richtige Diagnose stellen und die entsprechende Therapie einleiten können. Ausgehend von der gemeinsamen Grundlage des neurologischen Symptoms bzw. Syndroms brauchen wir aber Spezialisten, die das umfangreiche und zunehmend größer werdende neurologische Fachwissen nicht nur theoretisch bewerten können, sondern auch – und das ist aus meiner Sicht ganz wesentlich – Erfahrung mit der Anwendung haben.
Viele Spezialisierungen und „High-End“-Versorgung
Zu den besonderen Bereichen der „High-End“-Versorgung der Wiener Universitätsklinik für Neurologie gehören neben einer im Wiener Schlaganfallpfad verankerten Stroke Unit unter anderem das Epilepsiemonitoring inklusive invasivem Monitoring und zur Vorbereitung von epilepsiechirurgischen Eingriffen. „In diesem Bereich arbeiten wir genauso wie bei der Deep-Brain-Stimulation für bestimmte Formen von Bewegungsstörungen eng mit der Universitätsklinik für Neurochirurgie zusammen“, betont Berger. Zudem bietet das hochspezialisierte neurologische Team insgesamt 13 Spezialambulanzen mit entsprechender klinischer Expertise und wissenschaftlichen Schwerpunkten an: Diese sind die Ambulanzen für Bewegungsstörungen, Botulinumtoxinbehandlungen, Epilepsie, Gedächtnisstörungen und Demenz, Neuropsychologie, Schlafstörungen, Schlaganfallprävention und -nachsorge, Kopfschmerzen, Neuroimmunologie und Multiple Sklerose, Neuromuskuläre Erkrankungen, Schwindel und Gleichgewichtsstörungen, Neuropsychosomatik sowie Neuroonkologie.
„Vervollständigt wird unser Portfolio durch eine ausgewiesene neurologische Funktionsdiagnostik. Dazu gehören etwa die Elektrophysiologie, Polysomnographie oder Nystagmographie“, ergänzt Berger. Darüber hinaus ist die Abteilung für Neuropathologie und Neurochemie bekannt für ihre Expertise in der neuropathologischen, neurochemischen und neuroimmunologischen Diagnostik, die ihr laut Berger ein „Alleinstellungsmerkmal“ in Österreich sichert. „Die Abteilung fungiert auch als nationales bzw. zum Teil auch internationales Referenzzentrum für kindliche und adulte Tumoren des Nervensystems, Prionen-Erkrankungen, ebenso für seltene neurologische und neurodegenerative Erkrankungen.“ Die Wiener Universitätsklinik für Neurologie hat derzeit 77 Betten. Vorgesehen ist aufgrund des fachspezifischen Bedarfs auch eine Neurologische Intensivstation mit sechs bis neun Betten. Die durchschnittliche stationäre Aufenthaltsdauer liegt bei etwa zehn Tagen: „Diese Zahl gründet auf dem hohen Anteil schwerkranker Patienten und Patientinnen, die hier versorgt werden“, erklärt Berger.
Wie lautet Ihr persönliches Rezept dafür, das tägliche Arbeitspensum aus den Tätigkeiten in Lehre, Forschung und Klinik mit den Anforderungen der Führungsfunktion zu vereinbaren?
Mit der Übernahme der Klinikleitung hat sich natürlich vieles in meinem Tätigkeitsspektrum verschoben: Früher nahm die Patientenbetreuung etwa die Hälfte bis drei Viertel meiner Tätigkeit ein; heute ist dieser Anteil deutlich kleiner. Zugleich muss ich –, auch wenn es banal klingen mag –, Prioritäten setzen: Zeitmanagement ist da ein großes Thema und das Wissen, dass sich nicht alles gleichzeitig bearbeiten lässt. Für mich gilt: lieber strategische Langsamkeit als purer Aktionismus! Entscheidend ist für mich aber, dass ich die Dinge alle gerne mache – damit stellen sie für mich auch keine Belastung dar. Hinzu kommt, dass meine Familie in Innsbruck geblieben ist und ich mir jetzt die Wochenenden bewusst freinehme. Unter der Woche habe ich dann dafür öfter 12- bis 15-Stunden-Tage.
Zur Person
Univ.-Prof. Dr. Thomas Berger studierte in Wien Medizin. Nach seinem Abschluss arbeitete er am Neurologischen Institut der Universität Wien unter Univ.-Prof. Dr. Hans Lassmann im Bereich Neuropathologie und Neuroimmunologie sowie als Assistenzarzt an der Universitätsklinik für Neurologie. 1995 wechselte Berger nach Innsbruck, wo er die Ausbildung zum Facharzt für Neurologie und Psychiatrie absolvierte und sich im Fach Neurologie habilitierte. Zusätzlich absolvierte er ein Masterstudium in Gesundheitsökonomie. Der wissenschaftliche Schwerpunkt Bergers liegt in der Neuroimmunologie und MS, so fungierte er bislang in mehr als 70 klinischen Studien zu MS und Neuromyelitis optica als „Principal Investigator“. Zudem koordiniert Berger das Österreichische MS-Therapie-Register und die Neuromyelitis-optica-Datenbank.