Kerzen für namenlose Grippeopfer
Heute will ich eine Kerze anzünden. Für unsere Grippepatienten der heurigen Saison, die es nicht geschafft haben. Alle diese namenlosen Toten. Wie viele mögen es wohl sein? 1500? 2000? Liebe Leute, nicht böse sein, aber: Ihr wart uns so was von wurscht.
G wie Grippesaison
Ihr wart uns keine Medienberichte wert und keine täglichen, ja stündlichen Updates. Ihr wart es uns nicht wert, dass wir uns die Hände ordentlich waschen, im Supermarkt ein Wagerlgriff desinfiziert wird und schon gar nicht die Tastatur der Bankomatkasse (die, glaube ich, immer noch nicht desinfiziert wird, und trotzdem glauben alle, sie zahlen kontaktlos). Ihr wart es uns nicht wert, dass wir Abstand halten und dass wir den angeschlatzten Händedruck endlich abschaffen. Ihr wart uns keine Schulschließungen wert und schon gar nicht hätten wir für euch Arbeitslosigkeit riskiert, eine Wirtschaftskrise oder die Zukunft unserer Kinder. Ihr habt leider Pech gehabt. Und alles, was ihr bekommt, ist diese kleine Kerze, die nur ganz zögerlich flackert.
Bitte nicht im Grab rotieren, wenn ich euch jetzt sage, dass ihr, oder zumindest viele von euch, gar nicht hättet sterben müssen. Denn es hätte eine recht gut wirksame Impfung gegeben. Es war uns auch nicht wert, achtzig statt acht Prozent der Bevölkerung zu impfen, um dadurch so etwas wie einen Herdenschutz zu erwirken. Und ihr wart ja nur die Spitze des Eisbergs. Ein paar hunderttausend Erkrankte, leere Schulklassen, verwaiste Kindergärten und gespenstisch ruhige Büros waren die Norm in diesem Winter. Erinnert sich noch jemand daran? Im Ausgleich dafür hatten wir übervolle Arztpraxen und komplett ausgelatschte Hausärzte. Wahrscheinlich war ich heuer im Winter nicht die Einzige, die Angst hatte, dass sie der Schlag trifft. Aber nicht nur die Arztpraxen sind übergequollen, auch die Krankenhäuser. Ich wollte eine Achtzigjährige mit massiver Pyelonephritis und Blutdruckkapriolen auf einer Internen unterbringen.
„Njet“, hieß es, „alle Betten sind voll mit Grippekranken.“ Glücklicherweise hat sie auch so überlebt. Gestern hab ich mit einem Bekannten geredet – die haben immer noch Grippepatienten auf der Intensivstation. Bis diese Kolumne erscheint, sind die hoffentlich endlich aufgestanden. Und all die und all das waren uns keine Diskussionen, keine Pressekonferenzen und keine Veränderungen wert. Ganz im Gegenteil: Politiker werden nicht müde zu betonen, dass es sich bei Corona um keine Grippe handelt. Das ist zwar korrekt, lässt aber die Grippe wie die kleine inkompetente und harmlose Schwester von Corona dastehen. Und was glauben Sie, werden die Leute zu Zeiten der nächsten Grippeimpfung dann tun? Sich impfen lassen? Keineswegs. Denn es ist ja NUR eine Grippe und die Heilung der Menschheit wird erst mit einer verfügbaren Impfung gegen COVID 19 beginnen.
Statt einer Gratis-Impfung
Deshalb zünde ich heute noch eine zweite Kerze an. Für euch Grippeopfer, die ihr es in der kommenden Saison nicht schaffen werdet. Mehr hättet ihr zwar davon, dass eine verpflichtende und Gratis-Influenza-Impfung kommt (mit entsprechender Positionsnummer im Honorarkatalog der Hausärzte). Das aber ist eher unrealistisch. Wir werden hören, dass wir uns das nicht leisten können, auch wenn wir im Moment der Gesundheit zuliebe Milliarden ausgeben. Stellen Sie sich eine Saison mit wenig Grippekranken vor: Gesunde und produktive Menschen (wichtig in der jetzigen Wirtschaftskrise), relaxte Hausärzte, Spitäler, die geplante Therapien und Operationen auch durchziehen können. Intensivstationen, die Kapazität und Potenzial haben.
Menschen, die nicht immungeschwächt von Influenza einem „COVID-19 reloaded“ gegenübertreten müssen. Oder COVID 21, 34, 87 oder wer auch immer als Nächstes kommen mag. Wird wahrscheinlich nix. Hygienttechnisch haben wir auch nicht allzu viel zugelegt. Die Leute kramen weiterhin in der Backbox im Supermarkt, statt dass das frische Gebäck sauber verpackt wird. Und sie fingern an den Keimschleudern, die sie Gesichtsmasken nennen herum und nehmen sie auch zwischendurch mal runter, um besser Luft zu kriegen. Aber sie wollen FFP2- oder FFP3-Masken. Find ich superlustig. Schon mal versucht, damit zu atmen? Und nein, Handschuhe sind kein Ersatz für Wasser und Seife.
Melanom, bitte warten!
Und wenn ich schon am Zündeln bin, so nehme ich noch eine dritte Kerze. Diese brennt für all die Patienten, die wir jetzt verschieben. Für die Melanome, die keiner sehen will. Die Knoten in der Mamma, die wir nicht entdecken, weil wir die Untersuchung auf unbestimmt hinausschieben. Die Patienten mit Blut im Stuhl, denn immer heißt es: Colo erst nach der Pandemie. Hoffentlich wird es dann noch rechtzeitig sein! Für alle, die weder an Corona versterben noch mit Corona. Die wegen Corona versterben werden, wenn wir noch lange alles auf Eis legen (vielleicht ist diese Überlegung zum Erscheinungszeitpunkt der Kolumne bereits Geschichte? Schön wär’s!). Und eine Kerze für alle, die Existenzangst haben, Depressionen bekommen und mit Suizidgedanken spielen. Für die Kinder der bildungsfernen Schichten, die jetzt noch weniger Zukunft haben. Für unsere zukünftigen Herzkranken, Diabetiker, Alkoholiker und Gewaltopfer. Ich fürchte, das wird ein Lichtermeer.