„Dicke sind tatsächlich gute Futterverwerter“

Wie hängen Adipositas und Diabetes mit unserer Darmflora zusammen? Macht eine Mikrobiom-Analyse Sinn, wenn eine Fettleber vorliegt? Antworten auf Fragen wie diese liefert die Grazer Gastroenterologin Priv.-Doz. Dr. Vanessa Stadlbauer-Köllner im Interview. (Medical Tribune 39/18) 

Frau Dr. Stadlbauer-Köllner, wie sieht eine gesunde Besiedelung unseres Darmes aus, wie eine ungesunde?

Stadlbauer-Köllner: Wichtig bei der Besiedelung unseres Darms ist die Vielfalt an unterschiedlichen Mikroorganismen. Das sind nicht nur Bakterien, sondern auch Viren und Pilze. Das Um und Auf ist jedoch die Diversität, sprich, dass wir möglichst viele verschiedene Spezies in unserem Mikrobiom haben. Bestimmte Spezies sind dabei nachgewiesenermaßen besonders günstig, andere wiederum, z.B. Clostridium difficile, kommen zwar bei vielen Menschen vor, können aber unter bestimmten Umständen krank machen. Diese potenziell pathogenen Keime nehmen vor allem dann überhand, wenn beispielsweise aufgrund einer Antibiotika-Einnahme die Diversität des Mikrobioms abnimmt.

Das Mikrobiom entwickelt sich in den ersten Lebensjahren – abhängig von Geburtsmodus, Ernährungsgewohnheiten und Antibiotikagebrauch – und bleibt dann relativ stabil. Heißt das, dass wir als Erwachsene relativ wenige Möglichkeiten haben, unser Mikrobiom zu beeinflussen?

Stadlbauer-Köllner: Nein, das ist nicht der Fall. Mit der Stabilität des Mikrobioms ist viel eher das Prinzip der Resilienz gemeint: Das erwachsene Mikrobiom ist ganz gut in der Lage, sich von einer Schädigung zu erholen. Das klassische Beispiel einer Schädigung ist die Antibiotikagabe: Es ist, als würde ein Feuer durch den Wald fegen und den Bestand ordentlich ausdünnen. Dabei gilt: Ein Mischwald ist viel eher in der Lage, sich wieder zu erholen und in ein Gleichgewicht zu gelangen, als eine Monokultur. Ein gesundes Erwachsenen- Mikrobiom braucht man daher weder zu behandeln noch zu stärken. Andererseits ist es schon das Ziel der Forschung, ein Mikrobiom, das nicht mehr so resilient ist, positiv beeinflussen zu können.

Wenn das Darmmikrobiom doch massiv aus dem Gleichgewicht gerät, hat das Folgen, die auf den ersten Blick nicht unbedingt nachvollziehbar sind. Wie stellt man sich z.B. den Zusammenhang zwischen veränderter Darmflora und Adipositas bzw. Diabetes vor?

Stadlbauer-Köllner: Hier stellt sich – wie auch bei vielen anderen Erkrankungen – die Frage: Was war zuerst? Die Henne oder das Ei? Was ist Ursache, was ist Auswirkung? Fest steht, dass dicke Menschen eine andere Mikrobiom- Zusammensetzung haben als schlanke. Bei Adipositas überwiegen Firmicutes gegenüber Bacteroidetes. Auch einzelne Spezies spielen offensichtlich eine Rolle bei der Entstehung der Adipositas und ihrer Folgen: Faecalibacterium prausnitzii zum Beispiel produziert Butyrat und stärkt so die Darmbarriere. Bei einem Mangel kommt es zu einer erhöhten Permeabilität, zum Übertreten bakterieller Produkte in die Zirkulation und konsekutiv zur Inflammation – vor allem in der Leber. Die Folgen sind vermehrte Fetteinlagerung und Insulinresistenz. Ein anderer günstiger Keim, der bei Adipositas verschwindet, ist Akkermansia muciniphila, der für die Erneuerung der Schleimschicht und damit für eine bessere Darmbarriere sorgt. Das Mikrobiom von Adipösen holt auch mehr Kalorien aus der Nahrung heraus als das von Schlanken. Es stimmt also bis zu einem gewissen Grad, dass dicke Menschen gute Futterverwerter sind.

Und über diese Inflammation kommt es dann auch zur nicht-alkoholischen Fettleber, zur Steatohepatitis und zur Leberzirrhose?

Stadlbauer-Köllner: Genau! Die Leberzirrhose ist Folge der Inflammation, die den Untergang von Hepatozyten nach sich zieht. Diese werden dann durch Bindegewebe ersetzt, und über die Fibrose entsteht mit der Zeit eine Leberzirrhose. Ähnliche Zusammenhänge gibt es übrigens auch bei der Entstehung der alkoholischen Leberzirrhose. Denn auch Alkohol führt zur Mikrobiom-Veränderungen – z.B. zur Abnahme von Laktobazillen. Zudem schädigt Alkohol direkt die Darmbarriere. Das Mikrobiom versucht zu helfen und baut Alkohol ab. Allerdings ist das Abbauprodukt – Acetaldehyd – noch toxischer als der Alkohol selbst. Durch die Schädigung der Zell-Zell-Verbindungen kommt es zum Einstrom bakterieller Produkte – hier spielt zum Beispiel Enterococcus faecium eine wichtige Rolle. Diese verursachen wiederum in der Leber eine Inflammation.

Die Mikrobiom-Forschung hat ja mittlerweile etliche Erkrankungen identifiziert, die mit einem veränderten Mikrobiom assoziiert sind – von chronisch entzündlichen Darmerkrankungen über Adipositas, Diabetes und Fettleber bis hin zu Parkinson und Depression. Wie realistisch ist es, dass in Zukunft bei bestimmten Erkrankungen das Darmmikrobiom routinemäßig charakterisiert wird?

Stadlbauer-Köllner: Ich denke, das wird in Zukunft sicher kommen. Es gibt zwar jetzt schon Labors, die eine Mikrobiom-Bestimmung anbieten, aber ich empfehle es meinen Patienten nicht, auf private Kosten eine Mikrobiom-Analyse durchführen zu lassen. Das Problem ist nämlich, dass wir aus dem Ergebnis noch keine therapeutischen Konsequenzen für den einzelnen Patienten ziehen können. Wir brauchen noch mehr Zeit und Forschung, um herauszufinden, was die Normwerte sind und was wir erreichen wollen.

Als therapeutische Möglichkeiten stehen derzeit drei Optionen zur Verfügung, das Mikrobiom zu beeinflussen: Präbiotika, Probiotika und die Stuhltransplantation. Wann kommen diese Therapien zur Anwendung?

Stadlbauer-Köllner: Bei Clostridium-difficile-Diarrhö wird die Stuhltransplantation entsprechend den Guidelines ab dem zweiten Rezidiv angewandt. Alle anderen Indikationen sind noch Studienindikationen. Zum Beispiel entwickeln Patienten auf der Intensivstation nach langer schwerer Erkrankung mit Multiorganversagen manchmal massive Durchfälle. In der normalen Stuhlkultur ist aber nichts Pathologisches zu finden. Diese Patienten, die oft ein komplett verarmtes Mikrobiom mit nur noch einigen wenigen Spezies haben, profitieren von einer Stuhltransplantation. In dieser Indikation steht die Mikrobiom-Bestimmung übrigens bereits am Übergang zur Routineuntersuchung. Für Probiotika gibt es in einzelnen Bereichen schon Empfehlungen in den Guidelines: z.B. zur Rezidivprophylaxe der Colitis ulcerosa, bei Reizdarmsyndrom und bei Intensivpatienten zur Vorbeugung der Ventilator-assoziierten Pneumonie. Die Probiotikagabe bei der Antibiotika-assoziierten Diarrhö wird, denke ich, auch bald als Empfehlung in die Guidelines aufgenommen werden. Die klassische Indikation für Präbiotika als leitlinienkonforme Therapie ist die hepatische Enzephalopathie, bei der Laktulose zur Anwendung kommt. Auch das nicht-resorbierbare Antibiotikum Colidimin als Mikrobiom-modulierende Substanz wird in dieser Indikation verwendet.

Versetzen wir uns ins Jahr 2030. Wo wird die Mikrobiom-Forschung dann stehen? Und was würden Sie sich für die Zukunft wünschen?

Stadlbauer-Köllner: 2030 ist ja gar nicht mehr so weit weg! Aber da wissen wir sicher schon mehr über die Diagnostik, vielleicht verwenden wir die Mikrobiom-Sequenzierung dann schon in einzelnen Indikationen routinemäßig als diagnostisches Mittel. Möglicherweise haben wir dann auch schon die Möglichkeit, in einzelnen Indikationen therapeutisch zu intervenieren. Es wird neuere Methoden geben, die weggehen von einer rein deskriptiven hin zu einer funktionellen Diagnostik. Ich glaube allerdings auch, dass dieser Hype, der derzeit herrscht, ein bisschen abflauen wird. Zurzeit schaut man sich ja wirklich bei jeder Erkrankung 20 Patienten an und sagt: Juchu, das Mikrobiom ist anders. Was ich mir allerdings schon wünschen würde, ist, dass dieses neue pathogenetische Konzept – gerade dort, wo es jetzt schon gute Daten gibt – auch wirklich breite Akzeptanz findet. Ich hoffe, dass das Interesse – vor allem der Pharmaindustrie – größer wird und dadurch auch die Datenlage.

Physiologische Aufgaben des Mikrobioms

  • Metabolische Aktivität: Das Mikrobiom hilft dabei, aus den Nahrungsmitteln Nährstoffe zu isolieren und aufzunehmen. Bestimmte Spurenelemente und Vitamine, z.B. Vitamin K, werden sogar fast ausschließlich mithilfe des Darmmikrobioms produziert. Eine weitere Aufgabe ist die Produktion von kurzkettigen Fettsäuren, die unter anderem der Ernährung der Enterozyten dienen. Gleichzeitig wird dadurch die Darmbarriere gestärkt.
  • Stärkung der Darmbarriere: Der Schleimab- und -wiederaufbau ist Aufgabe des Darmmikrobioms und trägt zu einer guten Darmbarriere bei.
  • Schulung des Immunsystems: Das Darmmikrobiom stellt sozusagen das Bootcamp des Immunsystems da. Dort werden die Immunzellen geschult, was gefährlich ist und was nicht. Außerdem kann das Darmmikrobiom auch direkt antibakteriell wirksam werden und den Körper dazu anregen, antibakterielle Substanzen – z.B. sekretorisches IgA oder intestinale alkalische Phosphatase – zu produzieren.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune