10. Juli 201850 Jahre Medical Tribune

Die Lebensrealität der Benachteiligten

Die Geburt der MT fiel in die Zeit der Einführung der Psychopharmaka und großer Reformen der Psychiatrie, die bis heute andauern. Mittlerweile ist die Mitarbeit der Psychiatrie am medizinischen Fortschritt selbstverständlich. (Medical Tribune 26/18)

Auch aus MT-Artikeln lässt sich, so Psota, die zunehmende Professionalisierung der Psychiatrie sehr gut erkennen: 1970, 1993, 1998, 2001, 2013.

50 Jahre Medical Tribune in Österreich – wir wünschen alles erdenklich Gute zum besonderen Geburtstag und für die Zukunft! – ist ein erfreulicher Anlass für einen Rückblick auf die geschichtliche Entwicklung der Psychiatrie seit Ende der 1960er.

1968–1978: Der Aufbruch

Die Psychiatriegeschichte im letzten halben Jahrhundert ist in erster Linie die Geschichte der Einführung der modernen Psychopharmaka und damit einhergehend der Psychiatriereform.1 Diese gesundheits- und sozialpolitisch höchst bedeutsame Epoche erreichte eine revolutionäre „fundamentale Veränderung der Lebensrealität einer der am massivsten benachteiligten Bevölkerungsgruppen (…), der chronisch psychisch Kranken“.2 Die Einführung der Psychopharmaka wird auch als „2. Welle der Biologischen Psychiatrie“ bezeichnet.3

1978–1988: Die Öffnung

Die Umsetzung dieses Aufbruchs in Österreich war die große Zeit der sozialpsychiatrischen Psychiatriereformer. Heinz Katschnig, jahrelang tätig im „Mutterland der Sozialpsychiatrie“, Großbritannien, brachte das Wissen nach Österreich mit. In Wien kam es sehr früh zu einem politisch getragenen Psychiatriereformprozess.4 In der Sitzung des Gemeinderates am 2. April 1979 wurde über den „Zielplan für die psychiatrische und psychosoziale Versorgung in Wien“ verhandelt. Stadtrat Alois Stacher: „Erst mit der fortschreitenden Möglichkeit, die psychiatrisch Kranken mit verschiedenen Medikamenten und anderen Methoden zu behandeln, hat sich die Situation so geändert, dass man heute mehr eine gemeindenahe Psychiatrie verlangt.“5 Nach einstimmiger Annahme des Zielplans eröffneten die Psychosozialen Dienste in Wien unter der Leitung des Psychiatrie-Reformers Stephan Rudas das erste ambulante Behandlungszentrum. Damit ging allmählich in ganz Österreich die Ära der anstaltszentrierten psychiatrischen Versorgung zu Ende. Es kam zum Paradigmenwechsel unter anderem von geschlossen zu offen und von krankheits- zu ressourcenorientiert.6 Von diesen fortschrittlichen Entwicklungen losgelöst war die österreichische Psychiatrie damals nicht in der Lage, ihre Mitverantwortung für die Grauen der NS-Psychiatriezeit einzugestehen. Dazu brauchte es den mutigen Unfallchirurgen Werner Vogt und den angehenden Medizinhistoriker Michael Hubenstorf.

1988–1998: Klinische Dekade

Lange galt die „Schizophrenie“ als Pars pro toto der Psychiatrie. Inzwischen wird die Schizophrenie jedoch immer mehr zu einer „Erkrankung unter vielen“7, was mit der Einführung genauer diagnostischer Kriterien für psychische Erkrankungen zusammenhängt. Diese operationalisierte Diagnostik wurde mit der Veröffentlichung der 3. Auflage des DSM-III 1980 sowie der aktuell gültigen 10. Ausgabe der ICD-10 1992 verwirklicht: Es kam zu einer Präzisierung psychischer Erkrankungen. Das DSM-III definierte z. B. die Persönlichkeitsstörungen erstmals ätiologiefrei und phänomenologisch ohne die bis dahin verwendeten wertenden, moralisierenden Begrifflichkeiten.8 In diese Dekade fällt auch die Aufarbeitung der Katastrophe Nazi-Psychiatrie – durch die Psychiatrie selbst. Hartmann Hinterhuber und Eberhard Gabriel sind die entscheidenden Protagonisten dieses Weges der Aufklärung.

1998–2008: Die Biologie

Die späten 1990er Jahre markieren den Beginn der sogenannten „3. Welle der Biologischen Psychiatrie“, basierend auf dem Fortschritt der molekularen sowie der kognitiven Neurowissenschaften und bildgebenden Verfahren („Neuroimaging“).9 Wiewohl psychische Erkrankungen regelhaft eine neurobiologische, eine psychodynamische und eine soziale Dimension aufweisen, dominiert seither die neurobiologische Dimension das aktuelle Paradigma der psychiatrischen Theorie, Forschung und Praxis. 2000 kommt es auf Betreiben der Psychiatrie zur Trennung vom Fach Neurologie und Gründung der ÖGPP (Psychiatrie & Psychotherapie). Gründungspräsident ist Sozialpsychiater Werner Schöny, der auch mit „pro mente“ die ersten psychiatrischen Reha-Einrichtungen in Österreich verwirklichte. Bereits 1998 kam es zur Gründung der ÖGPB (Neuropsychopharmakologie & Biologische Psychiatrie), Gründungspräsident und treibende Kraft ist Siegfried Kasper. Bemerkenswert ist auch der Bedeutungsgewinn der Gerontopsychiatrie in Österreich weit über das Biologische hinaus und die Entdeckung der Ästhetik als genesungsunterstützende Kraft bei Suchterkrankungen durch Michael Musalek.

2008–2018: Die Pragmatik

Ernüchterung prägt die letzte Dekade der Psychiatriegeschichte: eher marginale Behandlungsergebnisse trotz unbestreitbarer neurobiologischer Forschungsergebnisse, allmählicher Rückzug von Pharmaunternehmen aus der psychiatrischen Forschung, Warnung des Vorsitzenden der DSMIV- Task Force und DSM-V-Hauptkritikers, Allen Frances, vor einer Psychiatrisierung des Alltags etc. Auch die DGPPN (Deutschland) warnte vor einer Medikalisierung von Problemen unserer Gesellschaft.10 Andererseits wurde in Österreich die Dezentralisierung der stationären psychiatrischen Versorgung fortgesetzt und die Psychotherapie in der Psychiatrie nach einer wechselvollen Geschichte weiter etabliert.11 Darüber hinaus wird das Fach zunehmend weiblich: Erstmals haben sowohl die ÖGPP (mittlerweile mit Psychosomatik) als auch die ÖGPB eine Präsidentin, Christa Radoš und Gabriele Sachs.

Psychiatrie findet immer mehr in Schwerpunktspitälern statt. Die postpromotionelle Ausbildung wurde mit der neuen Ausbildungsordnung 2015 massiv aufgewertet, die Psychiatrie, die Kinder- und Jugendpsychiatrie wurden beide zu Mangelfächern erklärt und der Psychiater Wolfgang Fleischhacker wurde 2017 zum Rektor der Medizin-Universität Innsbruck gewählt. 2018 kommt es zum Abschluss einer jahrelang geforderten und vom Sozialpsychiater Johannes Wancata durchgeführten umfangreichen wissenschaftlichen Studie zur Prävalenz psychischer Erkrankungen in Österreich, einer wichtigen Grundlage für die Versorgungsplanung. Mit Ausnahme der Pädiatrie hatte kein anderes medizinisches Fach in Österreich mit 1938 einen vergleichbar hohen Verlust an Quantität und Qualität der Fachleute erlitten. Dennoch gelangen der österreichischen Psychiatrie ab den 1970er Jahren große Reformen und die mittlerweile selbstverständliche Mitarbeit am medizinischen Fortschritt.

Zurück in die Zukunft …

… der (Sozial-)Psychiatrie: 2018 ist auch das Gedenkjahr des „Anschlusses“ 1938. Die Psychiatriegeschichte der letzten 50 Jahre in Österreich war auch geprägt von Kontinuitäten und Diskontinuitäten, von Verdrängung und Aufarbeitung der Verbrechen der Nazi-Psychiatrie. Im Sinne der Aufklärung wird die Psychiatrie den Weg der Erinnerung und Verantwortung weitergehen – damit das, was geschehen ist, nie wieder geschehen kann. Außerdem dürfen die vergangenen Entwicklungen der Psychiatrie, vor allem die Erfolge der Psychiatriereformen, nicht vergessen lassen, dass ihre gesundheits- und sozialpolitischen Reformen jeden Tag aufs Neue gelebt, weiterentwickelt und, wenn nötig, verteidigt werden müssen. Angesichts unserer komplexer werdenden und sich schneller verändernden Gesellschaften, wiederholter globaler ökonomischer Krisen sowie der wachsenden sozialen Ungleichheiten ist und wird dies wichtiger denn je.12

Referenzen:
1,4,6 Schöny W (2011); Schott H, Tölle R (2006);
2 Salize J (2012) 3 Baldessarini RJ (2014);
5 Sitzungsprotokoll;
7 Maatz A , Hoff P (2017);
8 Freyberger HJ, Dilling H (2015); Weber MM (2012); Schott & Tölle (2006);
9 Walter (2013);
10 Freyberger & Dilling (2015); Priebe et al. (2013); Salize (2012);
11 Freyberger HJ (2015);
12 Psota G (2017).

 

 

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune