Neurologie: High Touch & High Tech
Die Geschichte des Sonderfaches Neurologie in den vergangenen 50 Jahren ist eine Geschichte der Revolutionen auf allen Ebenen. Trotz der zahlreichen Meilensteine bleibt Zeit und Anleitung in der Ausbildung das Um und Auf. (Medical Tribune 26/18)
In den 1960er Jahren standen den Neurologen lediglich wenige Zusatzuntersuchungen für das Gehirn zur Verfügung: Schädelröntgen, Carotis- Angiographie, Liquorpunktion, Pneumenzephalographie und EEG. 1970 wurden die ersten Computertomographieanlagen in Betrieb genommen. Revolutionär waren damals die ersten Schnittbilder des Gehirns. Knapp 20 Jahre später wurden dann erstmals Untersuchungen in der ersten Kernspintomographiemaschine mit 0,5 Tesla möglich. Die bildgebenden Methoden wurden dann in den 1980er und 90er Jahren durch neuronuklearmedizinische Techniken ergänzt (z. B. HMPAO- SPECT, Dat- Scan, IBZM-SPECT). Um die Jahrtausendwende erlebten wir die Einführung der PET-Untersuchung, heute ist die Kombination von PET-CT oder PET-MR aus der Diagnostik und Forschung rund um Hirntumoren und Demenzerkrankungen nicht mehr wegzudenken.
Diagnostik revolutioniert
Elektrophysiologische Untersuchungsmethoden gab es schon seit den 1930er Jahren, sie wurden jedoch erheblich weiterentwickelt. Dazu zählen die diversen evozierten Potenziale, mit denen man die Funktion spezifischer Leitungsbahnen im Zentralnervensystem überprüfen kann. Weiters die fortgeschrittenen Methoden zur prolongierten Video-EEG-Ableitung und -Interpretation, die vor allem in der Epilepsie- und Schlafdiagnostik unentbehrlich geworden sind. Die transkortikale Magnetstimulation fand in der Funktionsdiagnostik zum Nachweis der zentral-motorischen Bahn und zur therapeutischen Stimulation in der Neurorehabilitation und Psychiatrie ihren Platz. Nicht unerwähnt bleiben dürfen sämtliche Methoden der Neuroimmunologie, die vor allem durch Untersuchungen von Immunzellen, Immunmediatoren und spezifischen Biomarkern im Serum und Liquor unser Wissen über diverse Neuroimmunerkrankungen des zentralen und peripheren Nervensystems sehr erweitert haben.
Hier müssen etwa die neuen Autoimmunenzephalitiden erwähnt werden, bei denen durch spezifische Antikörper gegen Oberflächen- oder auch zellgebundene Merkmale von Neuronen Gehirnentzündungen mit spezieller Klinik ausgelöst werden. In den vergangenen 50 Jahren gab es im neurologischen Behandlungsspektrum eine unfassbare Explosion an Möglichkeiten. Während bis 1990 die wenigen Behandlungsmethoden rein eminenzbasiert angewandt wurden, gibt es mittlerweile für sämtliche Indikationsgebiete der Neurologie umfangreiche Evidenz samt aktueller Leitlinien (www.oegn.at, www. dgn.org). Ein Beispiel sind etwa die Antiparkinsonmedikamente, wo nach der Entdeckung der L-DOPA-Substitutionstherapie seit 1960 eine enorme Vielfalt an Pharmaka den Weg in die klinische Praxis gefunden hat.
Stroke-Versorgung top
Auch die Schlaganfallversorgung wurde in den vergangenen 50 Jahren revolutioniert. Durch die Zulassung der systemischen Thrombolyse vor 20 Jahren wurde in ganz Europa und speziell in Österreich die Etablierung eines flächendeckenden Stroke-Unit- Netzwerks ermöglicht. Heute gibt es in Österreich 38 Stroke Units, von denen elf sogar im 24/7-Modus als Schlaganfall-Interventionszentren fungieren (www.ögsf.at). Wir haben mittlerweile drei etablierte und gut wirksame Schlaganfall-Akuttherapieformen: die Stroke-Unit-Behandlung, die i.v.-Thrombolyse zur Rekanalisation eines verschlossenen Gehirngefäßes und die endovaskuläre Thrombektomie zur Wiedereröffnung von großen Verschlüssen der Gehirngefäße. Für Migränepatienten stellte die Markteinführung der Triptane vor 25 Jahren einen wesentlichen Meilenstein in der Anfallskupierung dar. Nun erwarten wir auch im Bereich der Migräneprophylaxe einen weiteren Meilenstein mit der Etablierung der CGRP-Antikörper, die sich als hilfreich und verträglich erwiesen haben. In der Neurorehabilitation sind es vor allem „robotics“, repetitive Stimulationsmethoden und augmentative Pharmakotherapie der Neuroplastizität, die das Therapiespektrum erweitert haben.
Standespolitik & Register
Fast das gesamte 20. Jahrhundert war geprägt durch das Bild der „Nervenfachärzte“, unter denen aus heutiger Sicht sowohl Fachärzte für Neurologie als auch Fachärzte für Psychiatrie verstanden wurden. Im Jahr 1994 erfolgte letztlich die Trennung der Fächer Neurologie und Psychiatrie in der Ärzteausbildungsordnung. Die wissenschaftliche Fachgesellschaft ÖGN ging 2000 als Konsequenz dieser Fächertrennung aus der ÖGNPP hervor. Nun gilt die Ärzteausbildungsordnung 2015, die auch dem Fach Neurologie das vorgegebene modulare Ausbildungsmuster gebracht hat. Sorge bereitet allerdings die Überführung des seit 1994 bestehenden Additivfaches Neurointensivmedizin als postgraduelle Spezialisierung in die neue Ausbildungsordnung. In der Schlaganfall-Akutversorgung ist Österreich in den vergangenen 20 Jahren Weltspitze geworden, was sich auch in zahlreichen Publikationen aus dem Österreichischen Stroke- Unit-Register, das mittlerweile mehr als 100.000 Datensätze enthält, niederschlägt. Durch die Etablierung der neuen kostenintensiven MS-Therapeutika wurde österreichweit ein System von MS-Zentren getriggert.
Die ÖGN hat deshalb ein MS-Register etabliert, das mittlerweile fast 4.000 Datensätze beinhaltet. Die Betreuung der etwa 13.000 österreichischen MS-Patienten hat durch diese Entwicklung eine hohe Qualität erreicht, um die wir auch international beneidet werden. Dennoch erfordert die Etablierung neuer MS-Therapeutika und die Versorgung der Patienten in späteren Krankheitsstadien weiter unsere Aufmerksamkeit. Auch im Bereich der eher seltenen primären Hirntumore gab es fachliche Weiterentwicklungen. Die ÖGN hat ein nationales Hirntumorregister gefördert, lokale Hirntumor-Boards sind entstanden und in der Ausbildung wurde ein eigenes Modul „Neuroonkologie“ etabliert. Viele Experten der ÖGN entwickelten mit der Gesundheit Österreich GmbH den Österreichischen Strukturplan Gesundheit (ÖSG). Im aktuellen ÖSG sind für die Neurologie die bewährten Strukturen wie Stroke Unit, Frührehabilitationsphase B und C sowie Allgemein-Neurologie weiterhin beschrieben. Neu ist die Verankerung von interdisziplinären Expertise-Zentren zu spitzenmedizinischen Themen: neurovaskuläres Interventionszentrum, extrapyramidales Zentrum und Epilepsie-chirurgisches Zentrum. Somit können dort komplexe neurologische Patienten optimal versorgt werden. Die Zuweisung und Nachsorge der Patienten erfolgt über alle Neurologischen Abteilungen Österreichs oder auch über Ordinationen der niedergelassenen Fachärzte.
Ausblick: Herz, Hirn, Technik
Die Neurologie wandelte sich von einem vorwiegend diagnostischen Fach mit chronischen Patienten in ein wichtiges Akutfach, während die Neurowissenschaften sicherlich weiterhin medizinische Innovationen generieren werden. Eine der Herausforderungen wird darin bestehen, eine stetige Lernbereitschaft in den Köpfen und eine Zuwendung zum leidenden Menschen in den Herzen der zukünftigen NeurologInnen zu bewahren. Dafür benötigt der ärztliche Nachwuchs Zeit und Anleitung. Beides ist heute aufgrund des Arbeitsdruckes und der Dissemination von Verantwortung rar geworden. Darüber hinaus wird die Neurologie auch im 21. Jahrhundert ein Fach mit der Kombination von „High Touch“ und „High Tech“ bleiben. Ohne Anamnese und klinisch-neurologische Untersuchung wird man weiterhin keine Arbeitshypothese über das Krankheitsbild eines Patienten entwickeln können. Ebenso wie viele andere Fächer erhoffen wir uns von der Analyse großer Datenmengen zusätzlich Hilfestellung (z. B. in Schlafmedizin, Epilepsiediagnostik, Neuro-Radiologie). Selbstverständlich wünschen wir uns unverdrossen, dass manche immer noch unheilbare Krankheitsbilder wie Chorea Huntington oder Amyotrophe Lateralsklerose in Zukunft heilbar sein werden. Wer jedenfalls Facharzt oder Fachärztin für Neurologie werden will, wird sicherlich immer Arbeit haben.