Kinderschutz in der Medizin sichtbarer machen
Bei der Schulung des medizinischen Personals im Umgang mit kindlichen und jugendlichen Opfern von Gewalt sowie bei deren professioneller Dokumentation zur späteren Beweisführung ist noch viel Potenzial vorhanden. (CliniCum 11/18)
Die Kapelle im Alten AKH, Sitz des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin, war an diesem Abend prall gefüllt, Zusatzstühle mussten kurzfristig organisiert werden, um allen Besuchern Platz zu bieten. Das große Interesse zeigt nicht nur, dass die Vienna Medical Encounters, Veranstalter des Symposiums „Kinder- und Opferschutz im Gesundheitsbereich“, ein ebenso brisantes wie aktuelles Thema getroffen haben, sondern zeugt auch von einer zunehmenden Sensibilisierung der damit konfrontierten Mitarbeiter in den Gesundheitseinrichtungen.
Projekt FOKUS
Als Ausgangspunkt für die spätere Diskussion wurden erste Ergebnisse einer Begleitstudie zum Projekt „FOKUS – Forensische Kinder- und Jugenduntersuchungsstelle“ präsentiert. Ziel des gemeinsam von der MedUni Wien und dem Institut für Ethik und Recht in der Medizin (IERM) initiierten Pilotprojekts an der Uni-Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde ist es, medizinisches Personal bei der Abklärung und Dokumentation von Verletzungen anhand vorhandener und objektivierbarer Spuren sowohl von medizinischer als auch von klinisch-psychologischer Seite zu unterstützen.
Dafür wurden eigene standardisierte Verfahren entwickelt, um eine verbesserte Erfassung vorliegender Indizien von Gewalt- oder Missbrauchstaten bei Kindern und Jugendlichen zwischen null und 18 Jahren zu gewährleisten. Das IERM führte dazu eine wissenschaftliche Begleitstudie durch, um herauszufinden, wie sich die standardisierten Untersuchungsverfahren und Dokumentationen letztendlich auf die Weiterverfolgung der gemeldeten und angezeigten Fälle durch Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, die Polizei und Staatsanwaltschaft und auf mögliche Gerichtsverfahren ausgewirkt haben. Dafür wurden 68 Akten der von FOKUS zur Anzeige gebrachten Fälle bearbeitet. Mag. Laura Fischer, wissenschaftliche Mitarbeiterin am IERM, präsentierte nun erste Ergebnisse der Begleitstudie (Details siehe Kasten unten).
Ihre Kernbotschaft lautete: In nur wenigen Fällen von Gewalt gegen Kinder gelingt es am Ende auch, den medizinisch begründeten Verdacht auf Gewaltanwendung bzw. Misshandlung in eine juristische Verurteilung der Täter münden zu lassen. In den meisten Fällen werden polizeiliche Ermittlungsverfahren eingestellt, noch bevor es zum Strafprozess kommt. Eine mangelhafte Dokumentation der Beweismittel ist nicht selten dafür mitverantwortlich, weil die Täter in der Regel nicht geständig sind oder Opfer nicht aussagen können bzw. wollen. Mangelhaft bezieht sich dabei nicht auf medizinische Standards, sondern auf juristische Voraussetzungen, um in einem späteren Prozess standzuhalten.
Stationäre Abklärung von Verdachtsfällen
Am Wiener AKH werden Kinder, wenn der Verdacht auf körperliche Misshandlung besteht, immer stationär aufgenommen, berichtete OÄ Dr. Monika Luxl von der Ambulanz für Kindertraumatologie, Leitung KSG Unfallchirurgie am AKH Wien, falls notwendig auch unter Einsatz von „Scheinanamnesen“. Nur so könne eine detaillierte Abklärung inklusive Fotodokumentation im „ruhigen Setting“ abseits des Ambulanzstresses gewährleistet werden. Beim Melden ist man am AKH „sehr großzügig“, berichtet Luxl: „Wenn Verletzungen von Kindern festgestellt werden, ist eine Meldung nahezu Standard.“ Schließlich müsse es nicht immer direkte körperliche Gewaltausübung sein, die zu Verletzungen führt, manchmal ist auch die Aufsichtspflicht vernachlässigt worden.
Bessere Ausbildung des medizinischen Personals
Im Anschluss diskutierte ein interdisziplinäres und multiprofessionelles Podium darüber, welche Schlüsse aus den Ergebnissen für den Umgang in der (klinischen) Praxis zu ziehen wären. Für die Leiterin von FOKUS, Univ.-Prof. Dr. Susanne Greber-Platzer, MBA von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde an der MedUni Wien, zeigt sich darin die Bedeutung von „Standardisierung und Qualitätskontrolle im Kinderschutz“. Ärzte, die mit der Problematik konfrontiert werden, müssten nicht nur „sehr genau hinschauen“, sondern sie brauchen auch „Werkzeuge und Standards“, um die Opfer bestmöglich zu schützen. Die Ergebnisse würden zudem deutlich aufzeigen, so Greber-Platzer weiter, wo Dokumentations-Prozesse noch verbessert werden müssen. „Aber immerhin haben wir es zumindest geschafft, als Kinderschutzgremium wahrgenommen zu werden, als eine einheitliche Gruppe, die endlich auch für Österreich Standards gesetzt hat, wie das Gesundheitspersonal mit solchen Ereignissen umgeht. International sei dies längst etabliert, denn man könne die einzelnen Spitäler in dieser Aufgabe nicht alleine lassen – und erst recht nicht die einzelnen Mediziner oder betroffenen Mitarbeiter aus anderen Gesundheitsberufen.
„Tolles Projekt“
Mag. Josef Hiebl, Jurist und Sozialpädagoge beim Amt für Jugend und Familie Wien, bestätigte die Sinnhaftigkeit von FOKUS aus einer externen Perspektive. Aus Sicht der Jugendhilfe würde die Arbeit der Untersuchungsstelle als „äußerst positiv, hilfreich und sehr produktiv erlebt“, sagte Hiebl: „Das ist ein tolles Projekt auf hohem, professionellem Niveau.“ In einem nächsten Schritt gehe es jetzt darum, erläuterte Dr. Maria Kletecka-Pulker, Leiterin des Institut für Ethik und Recht in der Medizin, genau zu analysieren, warum die meisten Verfahren trotzdem aus Mangel an Beweisen eingestellt wurden und es nur zu elf Verurteilungen kam, obwohl FOKUS in 25 Fällen einen klaren Verdacht auf Missbrauch festgestellt hatte. Hier gebe es offensichtlich noch viel Potenzial in der Ausbildung des medizinischen Personals, um die Dokumentation weiter zu professionalisieren. „In diesem Bereich orten Experten noch enormen Nachholbedarf in den heimischen Gesundheitseinrichtungen“, bilanzierte Kletecka-Pulker.
FOKUS-Begleitstudie: Erste Ergebnisse
Im Rahmen der Begleitstudie wurden 68 Fälle analysiert, die zwischen 2015 und 2017 bei FOKUS untersucht wurden. Über 70 Prozent der darin dokumentierten Opfer waren Mädchen, drei Viertel davon noch unmündig. Bei den Delikten standen Sexualdelikte ganz oben, gefolgt von strafbaren Handlungen gegen Leib und Leben, unter anderem Körperverletzungen, Quälen oder das Vernachlässigen unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen. Der überwiegende Teil der medizinischen Untersuchungen wurde am AKH durchgeführt (61 Fälle), einzelne Fälle im Kaiser-Franz-Josef-Spital, im Krankenhaus Rudolfstiftung, im SMZ Ost sowie im St. Anna Kinderspital. Auslöser für die Einbeziehung von FOKUS waren in der Hälfte aller Fälle äußere Verletzungen. Häufig lagen auch Verletzungen bzw. Beschwerden im Genitalbereich vor, seltener waren ein allgemeines Schmerzempfinden oder psychosomatische Symptome.
In knapp einem Drittel der Fälle kam das sogenannte „Sex-Kit“, das standardisierte Spurensicherungsset für Sexualdelikte, zum Einsatz, ebenso häufig erfolgte eine Fotodokumentation zur Spurensicherung. Zur Dokumentation der Untersuchungen wurde elfmal der Dokumentationsbogen „MedPol“, neunmal der FOKUS-Erhebungsbogen bei Verdacht auf Kindesmisshandlung, nur in Einzelfällen aber die FOKUS-Checklisten bei Verdacht auf Kindesmisshandlung bzw. sexuellem Kindesmissbrauch verwendet.
In 63 der 68 untersuchten Fälle kam es später zu einer Anzeige. Drei Viertel der über 100 Beschuldigten waren Männer, in den meisten Fällen waren Opfer und Täter verwandt oder zumindest mit den Kindeseltern bekannt. Nur wenige davon waren im Ermittlungsverfahren geständig oder zumindest teilweise geständig. Dem ärztlichen Untersuchungsbefund kam daher im Beweisverfahren große Bedeutung zu (in 80 Prozent der Verfahren). Aber auch die Fotodokumentation der Verletzungen stellte, wo vorhanden, ein wichtiges Beweismittel dar. Letztendlich mündete aber nur ein Bruchteil der Anzeigen in einem Gerichtsverfahren, dabei wurden elf der ursprünglich über 100 Beschuldigten auch rechtskräftig verurteilt, nur drei erhielten eine unbedingte Freiheitsstrafe.
Schulungen dringend notwendig
Einer dieser Experten ist Ao. Univ.-Prof. Dr. Thomas Wenzel, der von einer „katastrophalen Begutachtung “ vor allem im Trauma-Bereich sprach, die in Österreich ein „bizarres Ausmaß“ erreicht hätte. Eine Mitarbeiterin der Opferschutz-Einrichtung Möwe meldete sich zu Wort und stellte ebenfalls fest, dass zusätzliche Schulungen des medizinischen Personals „absolut dringend notwendig “ seien. Das gelte in besonderem Ausmaß für den extramuralen Bereich, wo die Dokumentation körperlicher Gewaltanwendung oft „sehr schlecht“ wäre.
Kritische Stimmen aus der Justiz
Kritik und Zurückhaltung bei der Einschätzung der Sinnhaftigkeit von FOKUS kam seitens der Vertreterinnen der Justiz. Sie sei sich nicht sicher, sagte etwa die Rechtsanwältin Mag. Eva Plaz, ob „das Projekt FOKUS nicht ein Versuch ist, das Rad neu zu erfinden“. Immerhin gäbe es schon eine Vielzahl an Kinderschutzgruppen, die sich dem Thema sehr professionell widmen würden. Es bestünde die Gefahr, dass betroffene Kinder, die bei Vorbefragungen ohne Beweiskraft im Rahmen von FOKUS alles erzählen, dies dann später nicht mehr wiederholen würden. Es gehe bei FOKUS ausschließlich um Kinderschutz in der Medizin, stellte Greber-Platzer klar. Diesen „sichtbarer zu machen, das ist unsere Aufgabe. Dort, wo Kinderschutzeinrichtungen gut funktionieren, braucht man FOKUS nicht, wo es nicht funktioniert, dort kann man uns kontaktieren.“ Die Kontaktaufnahme erfolgt übrigens ausschließlich über Notfallambulanzen. Greber-Platzer hofft jedenfalls, dass die Arbeit von FOKUS auch nach Projektende fortgeführt werden kann, „weil wir überzeugt sind, dass es auch in der Medizin maximalen Kinderschutz braucht“.
Vienna Medical Encounters: „Kinder- und Opferschutz im Gesundheitsbereich“, Wien, 17.10.18