6. Sep. 2024Initiative

Schulterschluss gegen „stilles Unglück“ der Einsamkeit

Unfreiwillige Einsamkeit betrifft rund 600.000 Menschen in Österreich. Der Berufsverband Österreichischer PsychologInnen (BÖP) stellt gemeinsam mit 8 Organisationen 10 Forderungen auf, um das „stille Unglück“ von Älteren, aber auch immer mehr Kindern und Jugendlichen aus der Tabuzone zu holen.

V.l.n.r.: Mag.a Anna Parr ( Generalsekretärin Caritas Österreich), Elisabeth Anselm ( Geschäftsführerin Hilfswerk Österreich), Anita Kienesberger (Allianz onkologischer PatientInnenorganisationen), Dr.in Katharina Moser ( Direktorin Diakonie Österreich), Mag. Martin Schenk (Armutskonferenz), ao. Univ. Prof.in Dr.in Barbara Juen (Österreichisches Rotes Kreuz), Prim. Univ.-Prof. Dr. Paul Sevelda (Präsident Österreichische Krebshilfe), a.o. Univ. Prof.in Dr.in Beate Wimmer-Puchinger ( Präsidentin des Berufsverbands Österreichischer PsychologInnen)
Foto: Martin Hörmandinger/BÖP
V.l.n.r.: Mag.a Anna Parr ( Generalsekretärin Caritas Österreich), Elisabeth Anselm ( Geschäftsführerin Hilfswerk Österreich), Anita Kienesberger (Allianz onkologischer PatientInnenorganisationen), Dr.in Katharina Moser ( Direktorin Diakonie Österreich), Mag. Martin Schenk (Armutskonferenz), ao. Univ. Prof.in Dr.in Barbara Juen (Österreichisches Rotes Kreuz), Prim. Univ.-Prof. Dr. Paul Sevelda (Präsident Österreichische Krebshilfe), a.o. Univ. Prof.in Dr.in Beate Wimmer-Puchinger ( Präsidentin des Berufsverbands Österreichischer PsychologInnen)

„Wir hatten einen strahlenden Sommer“, leitete BÖP-Präsidentin a.o. Univ.-Prof. Dr. Beate Wimmer-Puchinger die Präsentation einer Initiative gegen unfreiwillige Einsamkeit am 4.9.2024 ein. Doch dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Menschen einsam sind: Sie bleiben zurück, während andere wegfahren. Laut einer aktuellen Studie der Caritas fühlen sich bundesweit rund 600.000 Menschen mehr als die Hälfte ihrer Zeit einsam. Besonders betroffen seien ältere, junge und armutsgefährdete Menschen.

Um dagegen etwas zu tun, habe man beschlossen, „laut zu werden“, berichtet Wimmer-Puchinger, denn „Einsamkeit ist nicht nur eine Belastung für die Betroffenen, sondern geht uns alle an“. Das Ergebnis ist ein breiter Schulterschluss des BÖP mit Caritas, Diakonie, Hilfswerk, Krebshilfe, Allianz onkologischer PatientInnenorganisationen, Armutskonferenz, Rotem Kreuz und pro mente Austria. Dass so viele Organisationen und Institutionen mit dabei sind und hier mit 10 gemeinsamen Forderungen (siehe Kasten) „ein starkes Zeichen“ setzen, um das Thema aus der Tabuzone zu holen, freut Wimmer-Puchinger ganz besonders.

„Plaudernetz“ und „Plauderbankerl“ beliebt

Schon Armut sei unsichtbar, aber „Einsamkeit noch viel mehr“, betont Mag. Anna Parr, Generalsekretärin der Caritas Österreich. Dass Angebote gegen die Einsamkeit einen Unterschied machen, zeigen „sehr erfolgreiche“ Initiativen wie „Plaudernetz“ (Angebot für Telefongespräche) oder auch das „Plauderbankerl“, z.B. auf Wiener Friedhöfen. „Wir brauchen einen nationalen Aktionsplan“, formuliert Parr eine Forderung an die (künftige) Regierung in Österreich. Vorbild könne hier Deutschland sein. Als weiteren wichtigen Punkt nennt sie, die Datengrundlage zu verbessern.

„Einsamkeit“ meine immer die „unfreiwillige Einsamkeit“, erklärt Psychologe und Sozialexperte Mag. Martin Schenk von der Armutskonferenz den Unterschied zum „freiwilligen Alleinsein“. Bei Einsamkeit fühle man sich „von der Welt getrennt“. Es komme auch zu einer Entfremdung von sich selbst. Außerdem: „Je einsamer die Menschen, desto geringer ihre Wahlbeteiligung.“

Maßnahmenpakete gegen Einsamkeit würden daher auch für die Demokratie etwas bringen. Was man tun könne: ausreichend kassenfinanzierte Plätze für die psychologische Versorgung anbieten und in der Prävention ansetzen. Ein interessantes Projekt sei z.B. das „Social Prescribing", ein Rezept für soziale Dienstleistungen.

Schmerz der Einsamkeit: „Niemand braucht mich“

„Es gibt niemanden, der mich erkennt, niemanden, der mich braucht“, beschreibt Dr. Katharina Moser, Direktorin der Diakonie Österreich, den „Schmerz der Einsamkeit“. Der Knackpunkt: Betroffene können der Einsamkeit nicht ohne Hilfe anderer entkommen. Die gute Nachricht dabei: „Der Weg aus der Einsamkeit führt oft über die Bedürfnisse anderer Menschen.“ Moser fordert daher mehr und nachhaltige Investitionen in Freiwilligennetzwerke, „Grätzl-Arbeit“, Nachbarschaftshilfe etc.

Prim. Univ.-Prof. Dr. Paul Sevelda, Präsident der Österreichischen Krebshilfe, macht besonders auf vulnerable Gruppen wie Krebspatientinnen und -patienten aufmerksam. Eine Krebsdiagnose führe oft zur „Isolation“, es bestehe die „Gefahr der Einsamkeit“. Die Psychoonkologie biete eine gute und wichtige Unterstützung, werde aber bis dato nur von der Krebshilfe (spendenfinanziert) kostenlos angeboten. Als weiteres Beispiel bringt Sevelda die Initiative „Mama/Papa hat Krebs“. Sein Appell an die Gesundheitspolitik: die psychoonkologische Versorgung österreichweit in eine Regelfinanzierung zu inkludieren.

Anita Kienesberger von der Allianz onkologischer PatientInnenorganisationen verweist darauf, dass Betroffene oft unter Einsamkeit leiden, wenn Familie oder Freunde fehlen: „Nach der Therapie wird dies besonders deutlich.“ Daher fordert sie psychologische Unterstützung, soziale Vernetzung und professionelle Begleitpersonen für die Nachsorge. Für ältere Menschen sei auch der Punkt 10 wichtig – das Recht auf analoge Angebote, denn nicht alle kämen „mit der digitalen Welt“ zurecht.

Einsamkeit erhöht Demenzrisiko um 40%

Auch das Hilfswerk Österreich unterstütze den Schulterschluss „mit großer Leidenschaft“, so Geschäftsführerin Elisabeth Anselm. Das Risiko der sozialen Einsamkeit steige im Alter, insbesondere ab 80, an. Eine Studie aus den USA und Frankreich zeige, dass Einsamkeit das Alzheimer-Risiko um 40% erhöhe. Einsamkeit im Alter fördere auch die Pflegebedürftigkeit. „Es ist zumeist ein stilles Unglück, ein Unglück im Verborgenen“, schildert Anselm. Es brauche u.a. konkrete Maßnahmen wie Ausbau der Besuchs- und Begleitdienste, Heimhilfe, Alltagsbegleitung, Hol- und Bringdienste etc.

Einsamkeit löse „langzeitigen Stress“ aus, weiß Priv.-Doz. Dr. Günter Klug, Präsident von pro mente Austria. Gefordert seien Einrichtungen, die mit Jugendlichen arbeiten, „und für ältere Menschen sind attraktive Treffpunkte wichtig“. Bereits vereinsamte Menschen benötigen Klug zufolge mobile psychosoziale Betreuung: „Diese Angebote sind noch viel zu selten vorhanden.“

Wesentliches Ziel des Österreichischen Roten Kreuzes (ÖRK) sei es, die psychosozialen Bedürfnisse gefährdeter Gruppen zu verstehen und darauf zu reagieren. „Besonders junge Menschen sind betroffen“, berichtet a.o. Univ. Prof.in Dr.in Barbara Juen, ÖRK, sie würden sich „schneller“ als Ältere einsam fühlen. Bereits etablierte Angebote, um in psychosozialen Notlagen zu unterstützen, seien u.a. die Ö3-Kummernummer, Peer-to-Peer-Beratung via WhatsApp („time4friends“), Sozialbegleitung und Team-Österreich-Tafeln.

Abschließend bedankt sich BÖP-Präsidentin Wimmer-Puchinger bei allen Organisationen, „miteinander sind wir eine starke Stimme, ein starkes Bündnis“. Nun müsse man gemeinsam schauen, dass die Forderungen keine „leeren Worte“ bleiben.

Die 10 Forderungen der Hilfsorganisationen gegen Einsamkeit lauten:

  1. Ende der Tabuisierung und Stigmatisierung von Einsamkeit
  2. Erarbeitung eines nationalen Aktionsplans
  3. Etablierung einer Koordinationsstelle gegen Einsamkeit
  4. Bezifferung volkswirtschaftlicher Kosten von Einsamkeit und Finanzierung evidenzbasierter Forschung
  5. Ausbau der kostenfreien psychologischen Versorgung
  6. Recht auf barrierefreie und mehrsprachige Angebote gegen Einsamkeit
  7. Fokus auf besonders vulnerable Gruppen
  8. Appell an soziales Miteinander – Unterstützung von sozialer Teilhabe und Selbstermächtigung
  9. Schaffen einer Kultur des neuen Miteinanders
  10. Recht auf analoge Angebote