Alfred Springer: „Harm Reduction muss ausgebaut werden“
Der österreichische Suchtmediziner Alfred Springer fordert Programme zur Schadensminderung bei Nikotinabhängigen.
„Die Harm-Reduction-Programme für Konsumentinnen und Konsumenten aktuell legaler Substanzen wie Alkohol und Nikotin müssen ausgebaut werden!“ Diese Forderung erhob Univ.-Prof. Dr. Alfred Springer, Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für arzneimittelgestützte Behandlung von Suchtkrankheit (ÖGABS) auf dem 26. Substitutions-Forum, das Anfang Mai in Mondsee stattfand. Zugleich forderte der Doyen der österreichischen Suchtmedizin die Entwicklung von jugendgerechten Harm-Reduction-Programmen: „Der Schutz der Jugendlichen kann sich nicht ausschließlich auf eine Verbotsstrategie reduzieren.“
Bei Harm Reduction geht es um Maßnahmen, Programme und Projekte, die darauf abzielen, die gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Schäden im Zusammenhang mit dem Konsum psychoaktiver Substanzen zu verringern. „Es handelt sich um einen wissenschaftsbezogenen, evidenzbasierten und kosteneffizienten Ansatz, der den Einzelnen, der Gemeinschaft und der Gesellschaft Vorteile bringt“, betonte Springer im Eröffnungsvortrag des Kongresses. Das bedeutet unter anderem: Statt von den Suchtkranken Abstinenz einzufordern, bietet man ihnen Alternativen an, die mit einem geringeren gesundheitlichen Risiko verbunden sind. Die Prinzipien der Schadensminderung, wie sie etwa von der International Harm Reduction Association beschrieben wurden, beziehen sich auf die Konsumentinnen und Konsumenten aller psychoaktiven Substanzen, unabhängig von ihrem legalen Status – also auch auf Alkohol und Tabak. Beim Tabak lauten die Alternativen zur höchst gesundheitsschädlichen Verbrennungszigarette: E-Zigaretten, Tabakerhitzer oder Pouches.
Den Menschenrechten verpflichtet
Im Bereich illegaler Substanzen ist der Ansatz der Harm Reduction mittlerweile fest etabliert. Wenn es jedoch um Nikotin bzw. Tabak geht, ist Harm Reduction jedoch äußerst umstritten. Vielen missfällt es, dass Suchtmedizinerinnen und Suchtmediziner den Nikotinabhängigen im Sinne von Schadensminderung die Verwendung von Tabakerhitzern und Co. empfehlen. Daran nämlich, so das zentrale Argument, verdiene in erster Linie die Tabakindustrie, die eigentlich schuld sei an dem ganzen Schlamassel. Tatsächlich ist der Harm-Reduction-Zugang im Bereich der etablierten Alltagsdrogen schwieriger zu argumentieren als im Fall der illegalen Substanzen: Während man bei der Kritik an der prohibitiven Einstellung gegenüber illegalen Substanzen menschenrechtliche Argumente ins Treffen führen kann, beruft sich die prohibitive Haltung gegenüber Tabak und Alkohol ihrerseits selbst auf eine menschenrechtliche Forderung: das „Health for All“-Konzept der Weltgesundheitsorganisation WHO. Springer freilich lässt keinen Zweifel daran, welcher Position er den Vorzug gibt: „Harm Reduction ist den Menschenrechten verpflichtet. Dahinter steht die Überzeugung, dass Menschen lebensnotwendige soziale und medizinische Unterstützung nicht aus moralischen oder rechtlichen Gründen verweigert werden darf.“
Vor Stigmatisierung schützen
Was Springer besonders stört, ist die in seinen Augen stattfindende Stigmatisierung, Diskriminierung und „Denormalisierung“ der Nikotinabhängigen. Dazu gehören die abschreckenden Abbildungen auf den Zigarettenpackungen, die Fokussierung auf sexuelle Funktion und Prokreation bei den Warnungen und diskriminierende Zuschreibungen wie etwa Gestank. „Würde man heute in diesem Ton über Heroinabhängige sprechen, gäbe es einen Aufschrei“, sagt Springer im Interview mit medonline.at. Weil Nikotin über ein besonders hohes Abhängigkeitspotenzial verfüge, komme der Nikotinabhängigkeit in ausgeprägten Fällen Krankheitswert zu, betont der Suchtexperte. „Tabak- bzw. Nikotinabhängige dürfen nicht anders behandelt werden als die Abhängigen anderer Stoffe, die ja auch vor Stigmatisierung und sozialem Ausschluss geschützt werden sollen“, mahnt Springer.
Ob und wann sich Harm Reduction in Zusammenhang mit Nikotin politisch durchsetzen wird, kann Springer freilich nicht sagen. Zumindest auf dem Gebiet der illegalen Substanzen gibt es in den USA – die auf jenem Gebiet international tonangebend sind – seit Amtsantritt von Präsident Joe Biden eine sanfte Abkehr des uneingeschränkten „War on drugs“ und eine Hinwendung zu Prinzipien der Schadensminderung.
Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Interview, das die Meinung des Interviewpartners wiedergibt und nicht zwingend die Meinung von Redaktion und Herausgeber repräsentiert.
Quelle: 26. Subsitutions-Forum, Schloss Mondsee, 4.–5.5.2024