30. Apr. 2024„Doctor, please, some more of these“

ÖGPP: Hohe Dunkelziffer bei Medikamentenabhängigkeit

Die Medikamentenabhängigkeit, insbesondere die Abhängigkeit von Benzodiazepinen, wird auch als „stille Sucht“ bezeichnet. Häufig handelt es sich dabei um eine Niedrigdosisabhängigkeit mit Konsum im Verborgenen. Betroffene bleiben oft lange unentdeckt und unbehandelt, die Dunkelziffer ist hoch.

Eine Person ist überwältigt und versinkt in verschiedenen Opioiden und verschreibungspflichtigen Medikamenten.
TensorSpark/AdobeStock

Im Jahr 1960 wurde mit Chlordiazepoxid (Librium®) der erste Vertreter der Benzodiazepine synthetisiert und auf den Markt gebracht, 1963 folgte Diazepam (Valium®). Und bereits 1966 brachten die Rolling Stones mit „Mothers Little Helper“ das damals neue Problem des Benzodiazepin-Missbrauchs auf den Punkt. Die Stones hatten die Charakteristika eines problematischen Benzodiazepin-Gebrauchs perfekt erfasst, wie Dr. Myriam Sarny, Leiterin der Abteilung I für Alkohol- und Medikamentenabhängige am Anton Proksch Institut in Wien, ausführt. Die Substanzen werden ärztlich verordnet und eingenommen, um den Alltag besser bewältigen zu können, fehlende Wertschätzung zu kompensieren und Probleme des Älterwerdens zu verdrängen. Es wird dann über die verordnete Dosis hinaus konsumiert und es besteht letztlich die Gefahr einer tödlichen Dosissteigerung.

In Österreich sind nach Schätzungen aktuell rund 25.000 Menschen drogenabhängig und 150.000 quasi offiziell medikamentenabhängig, wobei die Dunkelziffer hoch ist und die tatsächliche Zahl gut doppelt so hoch liegen kann. Die Mehrheit der Betroffenen sind Frauen. Häufig lag am Anfang des Konsums eine medizinische Indikation vor, die Übergänge zu Missbrauch und Sucht sind fließend, der Konsum meist unauffällig. Weniger als 2% der Medikamentenabhängigen befinden sich in Therapie. Die Studienlage zur Medikamentensucht ist dünn.

Problemsubstanzen Nummer 1 sind Benzodiazepine

Die Abhängigkeit definiert sich durch körperliche Abhängigkeit mit Entzugserscheinungen und Gewöhnungseffekten sowie durch psychische Abhängigkeit mit Kontrollverlust, Craving, zwanghaftem Konsum und Einengung auf den Substanzkonsum. Wenn drei dieser Kriterien im Jahr vor Diagnosestellung erfüllt waren, so kann von Abhängigkeit gesprochen werden.

Abhängigkeit kann durch zahlreiche unterschiedliche Substanzgruppen entstehen, wobei Benzodiazepine und die ebenfalls am GABA-A-Rezeptor wirksamen sogenannten Z-Substanzen die wichtigste Rolle spielen. An zweiter Stelle stehen Schmerzmittel, und zwar Opioide und Nicht-Opioide. Sarny betont, dass Prävalenzzahlen zur Schmerzmittelabhängigkeit weitgehend fehlen. Ein erhöhtes Risiko, eine Medikamentenabhängigkeit zu entwickeln, besteht unter anderem bei vorbestehender Suchterkrankung, posttraumatischer Belastungsstörung, Angststörung, Depression, Essstörung, Schlafstörungen, ADHS und Schmerzerkrankungen. Häufig besteht eine Niedrigdosis-Abhängigkeit, bei der es zu keiner Dosissteigerung, sehr wohl aber zu Entzugssymptomen beim Absetzen kommt.

Im Falle der Benzodiazepine werden zwischen einem Viertel und einem Drittel der Dauerkonsumenten abhängig. Dieses Abhängigkeitspotenzial ist spätestens seit den 1970er Jahren bekannt. Daher wäre eine verantwortungsvolle Verschreibungspraxis geboten. Diese ist definiert durch die „Fünf K“, wie Sarny ausführt, nämlich Klare Indikation, Kleinstmögliche Dosis, Kurze Anwendungsdauer (4 Wochen), Kein abruptes Absetzen, Kontraindikationen beachten. Dies ist nicht nur wegen des Suchtpotenzials, sondern auch wegen der Nebenwirkungen der Substanzen geboten. Darunter fallen unter anderem auch Schwindel, Muskelschwäche und Benommenheit, was insbesondere bei älteren Menschen zu einem erhöhten Sturzrisiko führt. Bei langfristiger Einnahme drohen emotionale Abstumpfung, herabgesetzte Selbstkritik, reduzierter Antrieb, Interesselosigkeit und depressive Verstimmung bis hin zu pseudodemenziellen Zustandsbildern.

Mögliche Komplikationen machen stationären Entzug erforderlich

Ein Medikamenten-Entzug ist grundsätzlich eine Indikation für eine stationäre Behandlung, da mögliche Entzugssymptome wie Halluzinationen, Krampfanfälle oder Delir medizinische Notfälle darstellen. Sehr häufig kommt es zu Schlafstörungen, Angst, depressiver Verstimmung, Stimmungsschwankungen und Anspannung, aber auch vielfältige weitere Symptome (z.B. Übelkeit und Erbrechen) können auftreten.  Diese Symptomatik kann den Einsatz einer begleitenden Pharmakotherapie erforderlich machen, wobei Antikonvulsiva, Pregabalin und je nach Symptomatik sedierende Antidepressiva oder Neuroleptika indiziert sein können.

Im Rahmen des Entzugs soll zunächst auf ein Benzodiazepin mit mittlerer oder langer Halbwertszeit umgestellt und in der Folge nach einer Phase der Stabilisierung die Dosis reduziert werden. Dies soll schrittweise erfolgen, wobei am Anfang größere, im weiteren Verlauf kleine Schritte empfohlen werden. Der Entzug soll grundsätzlich in Verbindung mit psychosozialen Interventionen und anhand einer individuellen Zielsetzung durchgeführt werden. Stehen die Chancen auf Erfolg sehr schlecht, was bei älteren Patienten oder psychiatrischen Komorbiditäten der Fall sein kann, so ist eine Schadensreduktion als Alternative zu erwägen. In der Praxis bedeutet das die Umstellung auf ein Benzodiazepin mit geringem Kumulationsrisiko sowie eine Dosisreduktion mit dem Ziel der Konsumstabilisierung, was auch ein Zwischenschritt auf dem Weg zum Entzug sein kann. 

Quelle: Symposium der AG Suchterkrankungen & Suchtforschung „Neues aus der Suchtforschung“, im Rahmen der 24. Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (ÖGPP), Wien, 25.4.2024