Verbale Deeskalation im psychiatrischen Setting
Rebecca Kandutsch ist psychiatrische Krankenpflegerin sowie Trainerin für Deeskalation nach dem Konzept von ProDeMa®. Gegenüber medonline.at schildert sie, wie mit verbaler Deeskalation Gewalt gegenüber Mitarbeiterinnen verhindert und damit pflegerische Beziehung sowie Compliance nachhaltig gesichert werden können.

Aggressives Verhalten hat häufig emotionale Ursachen, weiß Rebecca Kandutsch. „Wichtig ist die Frage, welches Gefühl hinter aggressivem Verhalten steht. Aggression ist oft erst die Folge einer Primär-Emotion. Das ist meistens Angst, die wiederum aus Gefühlen der Bedrängtheit oder Ohnmacht entsteht. Genauso aber können Scham, Empörung, Trauer oder Verzweiflung in Aggression münden“, erklärt die psychiatrische Krankenpflegerin und Deeskalationstrainerin. Ein schizophrener Patient, der keine Angst vor seinen Wahninhalten hat, ist daher möglicherweise weniger aggressionsgefährdet als vielleicht ein depressiver Patient mit massiven Ängsten.
"Was genau macht Sie jetzt so grantig?"
Deeskalation im psychiatrischen Setting ist eine Kernaufgabe von Pflegepersonen. Denn sie verbringen, sehr viel Zeit mit den Patienten und halten sich oft in deren Nähe auf. Um das Entstehen von Gewalt zu verhindern, setzen geschulte Personen nach dem Stufenkonzept von ProDeMa® (Institut für Professionelles Deeskalationsmanagement) zunächst auf Primärprävention und damit auf verbale Deeskalation.
Kreismodell zum Deeskalations-Management
Das Institut ProDeMa® hat ein Modell für das professionelles Deeskalations-Management mit 7 Deeskalationsstufen (DS) entwickelt, die im Kreis mit einander verbunden sind:
- DS 1: Verhinderung (Verminderung) der Entstehung von Gewalt und Aggression
- DS 2: Veränderung der Sichtweisen und Interpretationen aggressiver Verhaltensweisen
- DS 3: Verständnis der Ursachen und Beweggründe aggressiver Verhaltensweisen
- DS 4: Kommunikative Deeskalationstechniken im Umgang mit hochangespannten Klienten
- DS 5: Schonende Vermeidungs-, Abwehr-, Löse- und Fluchttechniken bei Übergriffen durch Klienten
- DS 6: Verletzungsfreie Begleit-, Halte- und Immobilisationstechniken Vier-Stufen- Immobilisationskonzept (4-SIK®)
- DS 7: Kollegiale Erstbetreuung, Nachbearbeitung von Vorfällen
- (... und wieder zu DS 1)
Durch gezielte Fragen oder auch durch das Spiegeln der Patientinnen soll ein Kontakt aufgebaut und die vorherrschende Emotion erkannt werden. „Was genau macht Sie jetzt so grantig?“, könnte so eine Frage lauten, wie Kandutsch erklärt.
Professionelle Beziehung sichern
Auch stellen die Strukturen an der stationären Psychiatrie die Teams vor die Herausforderung einer Gratwanderung zwischen dem Wunsch nach Autonomie und geordneten Abläufen. „Psychiatrische Patientinnen und Patienten haben oft große Schwierigkeiten, Regeln im stationären Bereich einzuhalten, hinzu kommt die fehlende Intimsphäre. Da können schon Stress und Frustration entstehen. Und es braucht viel Feingefühl von uns, um sie zum Einhalten der Regeln zu motivieren“, sagt Kandutsch.
Alle im Team müssten sich zudem immer wieder fragen, was bei ihnen selbst Aggressionen auslöst. Und sie müssen sich fragen, wie sich diese möglicherweise auf Patienten übertragen. „Wir haben einerseits eine Machtposition, müssen aber auch eine professionelle Beziehung aufbauen. Wir dürfen dabei Reaktionen der Patientinnen uns gegenüber niemals persönlich nehmen“, weiß die Psychiatrische Krankenpflegerin und Deeskalationstrainerin.
Regelmäßige Supervision bzw. Fallsupervisionen bei sehr herausfordernden Patienten sollen die Selbstreflexion unterstützen. Das gilt vor allem bei Patientinnen in Langzeitbehandlung und bei Patienten mit einem „Drehtüreffekt“, die oft kurz nach der Entlassung wieder stationär aufgenommen werden müssen.
Fixierung nur im Notfall
Das Ausschöpfen der verbalen Deeskalation bedeutet sowohl Mitarbeiterinnen- und als auch Patienten-Schutz. Denn jegliche Anwendung von Haltetechniken oder Fixierungen bedeutet eine Belastung der pflegerischen Beziehung zum Patienten.
„Schließlich ist es unser Ziel, dass der Patient wieder gesund wird und integriert werden kann“, sagt Kandutsch. Deeskalation ist daher ein Konzept, das mehr Chancen bietet als das Beherrschen von Techniken zur Selbstverteidigung! Gerade in der Langzeitbehandlung an einer forensischen Abteilung zeige sich immer wieder, welche Erfolge durch eine regelmäßige auch medikamentöse Therapie erzielt werden können.
Reicht die verbale Deeskalation nicht mehr aus, so werden zunächst schonende Haltegriffe eingesetzt. Auch Fixierungen oder medikamentöse Therapien nach ärztlicher Anordnung sollen letztlich die Mitarbeiterinnen schützen.
Peer-Support
Nach jedem Übergriff ist nach dem Konzept von ProDeMa® in der Deeskalationsstufe 7 eine kollegiale Nachbereitung vorgesehen. Diese erfolgt im Idealfall auf der Peer-Ebene durch Kolleginnen mit ähnlichen Erfahrungen. Auch hier heißt es dann, die Emotion hinter der Gewalt zu erkennen und das Wissen um die mitunter fehlende Selbstkontrolle bei psychiatrischen Patienten wieder abzurufen. „Dann fällt es leichter, die Handlungsweisen zu verstehen.“
Auch andere Patientinnen, die unfreiwillig aggressives Verhalten beobachten mussten, werden intensiv nachbetreut, falls sie nicht rechtzeitig aufgefordert werden konnten, den Raum zu verlassen. „Jeder Anblick einer Eskalation löst Angst aus“, betont Kandutsch.
Zum Sicherheitskonzept gehört auch das Verringern von Gefahrenmomenten durch zu geringen Abstand zum Patienten. Empfohlen sind zwei Meter. Potenziell gefährliche Gegenstände zu entfernen gehört ebenso zum Sicherheitskonzept.
Stets einen Fluchtweg offen halten
Es heißt auch stets, einen Überblick über die Situation zu haben und einen Fluchtweg offen zu halten. Für Frauen gilt im Dienst übrigens auch bedenken, dass zu einem Zopf zusammengebundene lange Haare einen möglichen Angriffspunkt bieten können.
Für Ernstfälle gibt es zum Schutz der Mitarbeiterinnen ein Rufsystem, das ähnlich wie der Herzalarm funktioniert. Damit kann sofort kollegiale Unterstützung herbeigerufen werden.
Bei Gefahrensituationen, die im Team nicht beherrscht werden können, wird die Polizei alarmiert. Die Arbeit des Einsatzteams belastet die professionelle Beziehung zur Pflege weitaus weniger: „Schließlich muss ich am nächsten Tag den Patienten wieder dazu motivieren können, seine Medikation einzunehmen“, erklärt Kandutsch.

Zur Person: Rebecca Kandutsch
Nach dem Berufsstart als DGKP an der Neurologischen Abteilung der Villacher Privatklinik waren bei Rebecca Kandutsch, BA, Interesse und Motivation für die Arbeit mit psychiatrischen Patientinnen und Patienten geweckt. Ihr Dienstgeber ermöglichte es ihr daher, den einjährigen Psychiatrischen Sonderausbildungslehrgang für Pflegekräfte zu absolvieren.
In ihrer weiteren Laufbahn wechselte Kandutsch dann an die Abteilung für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin am Klinikum Klagenfurt am Wörthersee, wo sie zunächst im Geschützten Bereich für Frauen und später an der Beobachtungsstation tätig war. Mit der Ausbildung zur Deeskalationstrainerin nach ProDeMa® hat sie ein Konzept für Mitarbeiter-Schulungen in der Psychiatrie erstellt, das derzeit in laufenden Basis-Ausbildungen umgesetzt wird. Nach dem Bachelor-Studium in Gesundheits- und Pflegemanagement absolviert Kandutsch derzeit auch den berufsbegleitenden Masterlehrgang in Gesundheitsmanagement.
Weiterführende Links
- Institut ProDeMa®: https://prodema-online.de
- Lösungsmittel GsbR: https://www.loesungsmittel.at
Weiterlesen