28. Okt. 2024Medizin und ich

Na Mahlzeit

Vor mir sitzt eine dreißigjährige Patientin, die gerade dabei ist, ihren PhD zu machen. Also eine überdurchschnittlich intelligente Frau. Sie ist in der siebenten Woche schwanger und sehr besorgt. „Frau Doktor, ich weiß nicht, was ich essen soll!“

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BB

Da sie das dreißigste Lebensjahr unbeschadet erreicht hat und bereits einen gesunden Dreijährigen daheim herumtoben hat, frage ich sie: „Was haben Sie denn bisher gegessen? Beziehungsweise, wovon haben Sie sich denn in der ersten Schwangerschaft ernährt?“ „Daran kann ich mich nicht mehr erinnern.“ Naja, so lange, finde ich, ist das auch nicht her, aber wenn die Hormone auf Vollgas gehen, muss man sich nicht alles merken. Übel ist ihr nicht, also kann sie meinetwegen alles essen, was ihr schmeckt. „Kann ich Reis mit Kartoffeln essen?“ „Sicher können Sie das. Aber das ist doch ein bisschen eintönig und hat relativ wenig Proteine, Vitamine und Eisen.“ „Was wäre denn Protein?“ Uff. Nun wird es mühsam. Muss ich einer dreißigjährigen Mutter jetzt ernsthaft erklären, was Kohlehydrate und Proteine sind? Ja, ich muss. Das Spielchen geht übrigens weiter. Sie isst gerne Hühnchen. Ja, super. Fisch gerne auch. Aber sie möchte auch gerne ein Ei essen, darf sie das, wenn sie an dem Tag schon Huhn gegessen hat? „Es spricht nichts dagegen, am selben Tag Huhn und ein Ei zu essen“, beruhige ich sie (Das Huhn ist schon tot. Es wird sich nicht daran stören, dass Sie seine potenziellen Nachkommen verspeisen). Solche seltsamen Gedanken gehen mir dann durch den Kopf. Irgendwie pack ich es manchmal nimmer. Wie schaffen es die Leute heutzutage, erwachsen zu werden und zu überleben?

Ein Schweinsbratenastronaut. Herzallerliebst!


Das Schöne an meinem Job ist, dass ich immer wieder aufs Neue überrascht werden kann. So zum Beispiel von den Laborwerten eines jungen Mannes. Etwas seltsam kam er mir bei der Gesundenuntersuchung schon vor: als er mir erzählte, dass er seinen Blutdruck eh jeden Tag selbst messen würde und seine Herzfrequenz permanent aufzeichnet. (Er hat nichts Kardiales). Im Labor fällt ein hochgradiger B12-, D3- und Eisenmangel auf. Nachdem ich laborchemisch die Zöliakie ausgeschlossen hatte, frage ich ihn nach seinen Ernährungsgewohnheiten. Er ist vegan. Das ist ja ok. „Aber Sie müssen supplementieren!“ „Hie und da gibt’s eh Schweinsbraten.“ Also ich persönlich schaffe die Brücke zwischen vegan und Schweinsbraten nicht. Vegan und gelegentlich ein Bio-Ei oder Ziegenkäse fände ich nicht unpassend. Aber Schweinsbraten? „Na, wissen Sie, Schweinsbraten ist jetzt auch nicht unbedingt das gesündeste und vollwertigste Nahrungsmittel. Was essen Sie denn so?“ „Ich ernähre mich nur von Astronautennahrung. Ich denke, da muss ja alles drin sein, oder?“ Ein Schweinsbratenastronaut. Herzallerliebst! Ich mag heute keine Ernährungsberatungen mehr durchführen, verweise aber auf den bunten Bauernmarkt zwei Straßen weiter und rezeptiere Eisen, Vitamine und Spurenelemente. Ich bin ja nicht eure Mama. Naja, oft schon. Aber heute nimmer. Mama ist müde und „out of order“.
Menschen waren zu allen Zeiten und in allen Kulturen fehl- und mangelernährt. Hauptsächlich, weil der Großteil der Bevölkerung sich kein ordentlich ausgewogenes Essen leisten konnte und kann. Das sollte aber bei uns nicht das vorwiegende Problem sein. Zumindest noch nicht, und nicht für die Mehrheit der Bevölkerung. Vielleicht ist es das Überangebot an Nahrungsmitteln und das Überangebot an Information? Wenn man sich mit Ernährungsratgebern beschäftigt, kommt am Ende raus, dass man nichts mehr essen darf. Wer da nicht von Mama oder Oma eine vernünftige Esskultur mitbekommen hat, ist wahrscheinlich wirklich arm.

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Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune