Schmerzexpertise wird vermisst

Händeringend appelliert die Schmerzgesellschaft an die Politik, dringend mehr Ressourcen für Schmerzpatienten zu schaffen. Der Bedarf ist riesig, wie boomende Wahlarztpraxen zeigen. (Medical Tribune 05/18)

„Ich finde es beschämend, dass sich über Jahre eigentlich nichts getan hat bzw. wenn sich etwas getan hat, dann gab es eine Verschlechterung.“ Deutliche Worte der Kritik findet Dr. Gabriele Grögl-Aringer gleich zu Beginn der diesjährigen Österreichischen Schmerzwochen. Die Präsidentin der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG) spielt darauf an, dass die einschlägige Versorgung für Schmerzpatienten mangelhaft ist. In Österreich fehle es an Akutschmerzteams ebenso wie an Schmerzambulanzen. Obwohl die Zahl Betroffener zunehme, seien Letztere sogar geschlossen worden. Laut einer neuen Erhebung gibt es aktuell in Österreich gerade 48 Schmerzambulanzen, die regional sehr ungleich verteilt sind. „In Vorarlberg gibt es gar nur eine“, sagt Grögl-Aringer. Doch selbst in Wien, Oberösterreich oder Salzburg muss eine Schmerzambulanz jeweils 200.000 Einwohner versorgen.

Wahlarztzentrum boomt

Dabei können die wenigsten einen Vollbetrieb leisten: 85 Prozent der Schmerzambulanzen haben weniger als 35 Stunden in der Woche offen. Im Durchschnitt liegen die Öffnungszeiten laut ÖSG-Angaben bei nur 18 Stunden pro Woche. Die Folge sind meist wochenlange Wartezeiten auf einen Behandlungstermin. Auf den Mangel hat Niederösterreich, wo es laut ÖSG-Homepage nur vier Schmerzambulanzen gibt, mit einem eigenen Rezept reagiert. Im März 2016 öffnete das erste interdisziplinäre Schmerzzentrum Ostösterreichs seine Pforten – in der Gemeinschaftspraxis „ärzte im zentrum“ in St. Pölten und auf Wahlarztbasis. Das Angebot werde gerne angenommen, berichtet Dr. Alexander Buzath, Facharzt für Anästhesie und Schmerzspezialist des Zentrums: „Wir bekommen Zuweisungen von unterschiedlichen Ärzten, jedoch kommen auch viele Patienten aus Eigeninitiative aus ganz Österreich, weil sie trotz Schmerztherapie nicht schmerzfrei sind.“ Für die Schmerzpatienten sei „ein Wahlarztzentrum wie das unsere ideal“, da eine individuelle Schmerztherapie Zeit und ein medizinisches Netzwerk erfordere, sagt der Anästhesist, der mit 30 anderen Fachärzten verschiedenster Richtungen zusammenarbeitet. Nach dem Erstgespräch prüfen die Ärzte, ob die Grunderkrankung optimal abgeklärt und behandelt ist. „Das kann ein Schmerztherapeut alleine oft nicht beurteilen, er braucht die Expertise von Orthopäden, Neurochirurgen, Rheumatologen, Neurologen und so weiter.“ Ein wichtiger Punkt ist laut Buzath auch die psychologisch-psychiatrische Betreuung der Schmerzpatienten, die oftmals durch die Schmerzen oder eine schwere Erkrankung stark belastet sind. „Dieses ‚Gesamtpaket‘ können wir in Niederösterreich anbieten und sehen großen Bedarf für ähnliche Ansätze und Zentren.“

Teils zweijährige „Odyssee“

Das unterstreicht Internist Doz. Dr. Bernhard Angermayr, Gründer und Leiter von „ärzte im zentrum“: Wegen der Komplexität vieler Fälle und Involvierung oft mehrerer Fachrichtungen sei die Abklärung und Therapie aufwendig. „Dies in Spitalsambulanzen einzugliedern ist nicht optimal, in Kassenpraxen ist das sowieso nicht möglich.“ Ein weiteres Problem sei, dass sich nur wenige Ärzte für Schmerztherapie interessieren würden. „In Niederösterreich zum Beispiel werden die Schmerzambulanzen von Abteilungen für Anästhesie und Intensivmedizin betrieben. Kaum ein Arzt wird Anästhesist, weil er seine Zukunft als Schmerztherapeut in einer Ambulanz sieht“, erklärt Angermayr, der die Schmerzversorgung in ganz Österreich für „ausbaufähig“ hält. Zurück zur ÖSG: Im Niedergelassenen- Bereich ortet Präsidentin Grögl-Aringer Defizite auf Ebene der Allgemeinmediziner, die für Schmerzpatienten die erste Anlaufstelle sein sollten. „Nach wie vor werden zeitaufwendige schmerzmedizinische Leistungen nicht adäquat honoriert“, sagt sie und beruft sich auf eine Umfrage, die die ÖSG gemeinsam mit dem „ärztemagazin“ durchgeführt hat. „Nur fünf Prozent der Allgemeinmediziner gaben an, dass der Leistungskatalog der Krankenkasse in ihrem Bundesland die Anforderungen der Schmerzmedizin ausreichend abbilde.“ Eine Folge davon sei, dass Schmerzpatienten im Schnitt eine „eineinhalb- bis zweijährige Odyssee“ bis zu einer aussagekräftigen Diagnose in Kauf nehmen müssten.

1,5 Millionen Menschen

Die Umfrage zeigt auch, dass der Bedarf steigt: Eine Mehrheit der Ärzte beobachtete eine wachsende Zahl an Schmerzpatienten, 20 Prozent sprechen gar von einem starken Anstieg. Die häufigsten schmerzbezogenen Ursachen für einen Arztbesuch sind dieser Erhebung zufolge Rückenschmerzen (49 %) und Kopfschmerzen (46 %). Schon jetzt leiden 1,5 Millionen Menschen an chronischen Schmerzen und die steigende Lebenserwartung stellt die Schmerzversorgung längerfristig vor neue Herausforderungen. Vor diesem Hintergrund appelliert die Präsidentin der ÖSG an die Politik: „Mein Appell an die neue Bundesregierung kann nur lauten, den Schmerzpatienten mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als das bisher der Fall war.“

Neues Diplom ante portas
„Schmerz ist das mit Abstand häufigste Symptom, mit dem Ärzte aller Fachrichtungen konfrontiert werden“, sagt ÖSG-Generalsekretär Dr. Rudolf Likar. Umso wichtiger sei eine einschlägige Ausbildung. Vor zehn Jahren wurde bereits das Schmerzdiplom I für niedergelassene Ärzte eingeführt und von mehr als tausend Ärzten absolviert. Jetzt ist ein neues Diplom, „Spezielle multimodale Schmerztherapie II“, geplant. Es soll auf dem ersten aufbauen und vor allem zur Behandlung chronisch schmerzkranker Menschen befähigen. Geplant sind 480 Ausbildungseinheiten, von denen der Großteil (400 Stunden) in der Praxis absolviert werden soll. Likar ist zuversichtlich, dass die Ärztekammer mitspielt.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune