„Es ist genügend Geld im System“

Dr. Günther Schreiber von Quality Austria ärgert sich über Kaputtsparen, problematische Arbeitsbedingungen und sinnlose Ausgaben: „Geht meine Generation in Pension, fährt dieses System an die Wand.“ (Medical Tribune 50/17)

Veränderungsdruck, Budgetknappheit, rasante Digitalisierung: Das 11. qualityaustria Gesundheitsforum beschäftigte sich mit einer ganzen Reihe von aktuellen Fragen in Hinblick auf die Zukunft des Gesundheitswesens. Dr. Günther Schreiber, Netzwerkpartner, Projektmanagement und Koordination Branche Gesundheitswesen der Quality Austria, eines führenden Anbieters von Zertifizierungen in Österreich, stand am Rande der Veranstaltung für ein Interview zur Verfügung.

MT: Der Druck auf Gesundheitseinrichtungen, Qualitätsmanagement zu forcieren, nimmt ständig zu. Warum?

Günter Schreiber: Qualität bedeutet unter anderem das Erreichen eines angestrebten Zieles und damit zum Beispiel eine hohe Patientensicherheit, und die steht nun einmal an oberster Stelle. Weltweit erleiden bei Operationen fast sieben Millionen Menschen schwere Komplikationen, rund eine Million davon verstirbt. Zirka die Hälfte dieser „Adverse Events“ konnte als vermeidbar identifiziert werden. In ganz Europa sterben jährlich 91.000 Menschen an einer Krankheit, die sie sich erst im Krankenhaus zugezogen haben. Um solche Ereignisse zumindest einzuschränken, dazu ist Qualitätsmanagement da.

Werden Gesundheitseinrichtungen – zumal in Zeiten schwindender Budgets – dadurch nicht überfordert?

Jedes Qualitätsmodell ist ja nichts anderes als komprimiertes Wissen: Was müsste man tun, um eine Organisation geplant in die Zukunft zu führen? Vieles davon ist Hausverstand. Normierung im Sinne von Standardisierung macht jede Fachgesellschaft – das nennt man dann Evidence Based Medicine. Allerdings kann man nicht alles standardisieren. Man muss zum Beispiel den Ärzten genügend Freiräume lassen. Abweichungen vom Standard müssen möglich sein, wenn man sie begründen kann. Es ist nicht so, dass die Zertifizierungsgesellschaften dahinterstehen, dass möglichst viele neue Normen festgelegt werden. Jede neue Norm bedeutet für uns einen Riesenaufwand und ist mit hohen Kosten verbunden.

Und wie sollen die Krankenhäuser den Mehraufwand für Qualitätsmanagement finanzieren?

Es befindet sich genügend Geld im System, allerdings wird viel sinnlos hinausgeworfen bzw. die vorhandenen Möglichkeiten nicht genutzt. Bei Workshops mit Mitarbeitern von Krankenanstalten kommen wir innerhalb von zwei Stunden auf Projekte, mit denen man Hunderttausende Euro sparen könnte. Ein derartiges Projekt ist zum Beispiel das klinisch-pharmazeutische Service im Wiener AKH, bei dem die Pharmazeuten aus der Anstaltsapotheke gemeinsam mit den Ärzten die Medikationen optimieren. Auf diese Weise ist es gelungen, durch das Absetzen klinisch nicht indizierter Arzneimittel, Dosisreduktion und Umstellung auf orale Medikation beträchtliche Summen einzusparen.

Bedeutet Sparen in der Praxis nicht einfach nur: den Rotstift ansetzen?

Das ist leider richtig. Es herrschen Rahmenbedingungen, unter denen die Einhaltung des Budgets verwechselt wird mit dem Einsparen von Personal und Fortbildungen sowie mit dem Schließen von Abteilungen. Wir sind Lichtjahre davon entfernt, das System vom Patienten aus zu betrachten und dann die entsprechenden Strukturen zu schaffen.

Welche sind denn die großen Probleme des österreichischen Gesundheitssystems?

Zum einen verfolgt jeder Player seine Einzelinteressen, statt dass der Patient an oberster Stelle steht. Das Einzelinteresse der Sozialversicherung lautet zum Beispiel: keinen Verlust schreiben. Daher gibt es auch kaum Kassenstellen für Kinderpsychiatrie – mit der Folge, dass in den entsprechenden Spitalsabteilungen im Grunde unnötige Mehrkosten entstehen. Zum anderen stellen die Arbeitsbedingungen ein großes Problem dar. 82 Prozent der niederösterreichischen Spitalsärzte arbeiten regelmäßig länger, als das ihr Dienstvertrag vorsieht, wobei ein Drittel dieser Arbeitszeit nicht auf ärztliche Tätigkeiten, sondern auf Bürokratie entfällt. Diese Arbeitsbedingungen waren für meine Generation gemacht, die zu langen, teilweise unbezahlten Arbeitszeiten bereit war. Die Jungen sind heute ganz anders. Wenn meine Generation in Pension geht, fährt dieses System an die Wand. Nach jahrzehntelanger Misswirtschaft – auch im niedergelassenen Bereich – öffnet sich jetzt die Schere zwischen immer höheren Qualitätsansprüchen und immer weniger zur Verfügung stehender Zeit.

Was sind die Folgen?

Wenn wir nicht gemeinsam Lösungen entwickeln, dann wird im Umfeld einfach etwas Neues entstehen. In England zum Beispiel wurde das Gesundheitssystem kaputtgespart. Ein Termin bei einem Arzt ist kaum noch zu bekommen. Und wenn, dann hat der Arzt vielleicht schon die Grenzen seines erlaubten Budgets erreicht und kann nicht einmal mehr ein Rezept für ein Antibiotikum ausstellen. Was passiert nun dort? Das National Health Service stellt dem Patienten Apps zur Verfügung, die mithilfe Künstlicher Intelligenz den Arztbesuch ersetzen sollen. Diese Apps wurden von irgendwelchen Firmen entwickelt, bei vielen kann man sich via Facebook registrieren. Das heißt: Facebook kann dann auf komplette Gesundheitsprofile zugreifen. Ein Albtraum!

Welche Lösungsvorschläge haben Sie?

Einzelinteressen müssen dem Gesamtinteresse untergeordnet werden. Wer Arbeitsqualität erwartet, muss Lebensqualität geben. Immer weniger Arbeitnehmer identifizieren sich mit ihrem Arbeitgeber. Um dem entgegenzuwirken, braucht es eine Kommunikation auf Augenhöhe mit den Mitarbeitern und das nennt man Leadership. Auch das ist Qualitätsmanagement.

Zur Person
Dr. Günther Schreiber ist Netzwerkpartner, Projektmanagement und Koordination Branche Gesundheitswesen der Quality Austria Trainings- , Zertifizierungs- und Begutachtungs-GmbH. Er ist seit 20 Jahren mit der Entwicklung von Qualitätsmanagementsthemen und Lehrgängen beschäftigt und ist als Unternehmensberater, Autor, Trainer und Auditor tätig. Schreiber ist Arzt für Allgemeinmedizin und führt eine Ordination in Wien-Hietzing.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune