Darf man sich impfen lassen müssen?

Ethische Verpflichtung oder Verstoß gegen die persönliche Integrität: Befürworter und Gegner der Impfpflicht meldeten sich zu Wort. (Medical Tribune 25/2017)

Protestkundgebungen, Sit-ins, ja sogar die Ankündigung, in Österreich Asyl zu beantragen: In Italien laufen radikale Impfgegner Sturm gegen die seit Kurzem geltende Impfpflicht für Kinder. Demnach werden nicht geimpfte Kinder künftig nicht in Krippen, Kindergärten oder Vorschulklassen aufgenommen. Eltern schulpflichtiger Kinder ab sechs Jahren, die nicht geimpft sind, müssen Strafen von bis zu 7500 Euro zahlen. Ihnen droht sogar der Verlust des Fürsorgerechts. Die Argumente für bzw. gegen eine Impfpflicht waren auch Thema beim First-Come-Together-Seminar der neu gegründeten Österreichischen Gesellschaft für Vakzinologie (ögVak), das im April – also noch vor der Einführung der Impfpflicht in Italien – in Wien über die Bühne ging.

„Die Freiheit des Einzelnen endet bei der Freiheit des anderen“, unterstreicht Univ.-Prof. DDr. Matthias Beck vom Institut für Systematische Theologie und Ethik der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien: „Eigenverantwortliches Handeln bleibt an die gesellschaftliche Verantwortung gebunden.“ Der Theologe mit dem Forschungsschwerpunkt Medizinethik tritt daher für eine gesetzliche Impfpflicht ein. Für bestimmte Personengruppen habe der Staat nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, auf einem Impfschutz zu bestehen: „Für das Personal von Krankenhäusern, aber auch von Schulen und Kindergärten scheint mir ein aufrechter Impfschutz fast eine ethische Verpflichtung zu sein“, so Beck.
„Eine Impfpflicht ist nicht durchsetzbar“, glaubt hingegen Univ.-Prof. Dr. Heidemarie Holzmann vom Zentrum für Virologie der Medizinischen Universität Wien. Eine solche würde Ablehnung und Widerstand hervorrufen, die Virologin hält Aufklärung und die Schaffung von Awareness für bessere Instrumente, um der Impfverdrossenheit entgegenzuwirken.

Spitalpersonal im Fokus

Eine Ausnahme freilich sieht sie: das Personal von Gesundheitseinrichtungen. „Bei der heurigen Masernepidemie stammten 16 Prozent der Betroffenen aus dem Gesundheitsbereich“, weiß Holzmann. Sie hält es für wünschenswert, dass Ungeimpfte nicht in den Gesundheitsdienst aufgenommen werden sollten bzw. auf bestimmten Stationen im Krankenhaus keinen Dienst verrichten dürfen. Univ.-Prof. Dr. Ursula Wiedermann-­Schmidt, Leiterin des Instituts für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin der Medizinischen Universität Wien, wünscht sich auch, dass nicht nur im Krankenhaus, sondern auch im Schulwesen und in sozialen Einrichtungen ein kompletter Impfschutz Voraussetzung für die Berufsausübung ist.

Prinzipiell sei die Einführung einer Impfpflicht auch in Österreich möglich, legt Hon.-Prof. Dr. Gerhard Aigner, Sektionschef im Bundesministerium für Gesundheit, die juristische Situation in Österreich dar. Bis 1980 galt hierzulande das Pockenimpfgesetz, das eine verpflichtende Impfung gegen Pocken für alle Staatsbürger vorsah. „Bei einem bestimmten Bedrohungsszenario würde auch die derzeitige Rechtslage die Einführung einer Impfpflicht erlauben“, erklärt der Jurist: „Die Frage ist nur: Wie groß muss die Bedrohung sein, um das Grundrecht auf persönliche Integrität einzuschränken?“

Aigner verweist auf ein Beispiel, das nur einige Jahre zurückliegt: Nachdem in den 1990er-Jahren in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion die Zahl der Diphtheriefälle explosionsartig anstieg – rund 150.000 Menschen erkrankten, 4000 davon verstarben – wurde in der Ukraine eine verpflichtende Impfung gegen die lebensgefährliche Erkrankung eingeführt. Nach einer entsprechenden Klage entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass die Einführung einer Impfpflicht angesichts der konkreten Situation gerechtfertigt sei. In Österreich lasse auch das Epidemiegesetz die Möglichkeit zu, für bestimmte Personengruppen in Notfällen eine Impfpflicht anzuordnen, weiß Aigner: „Daran wird aber derzeit nicht gedacht.“

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune