Künstliche Intelligenz – „Menschen können einfach nicht mithalten“

Watson ist ein revolutionäres Computerprogramm, mit dem IBM einst bei einer Gameshow für Furore sorgte. Jetzt mischt der Konzern damit die Gesundheitsbranche auf. Medical Tribune traf den IBM-Manager Bart de Witte zum Talk über Künstliche Intelligenz. (Medical Tribune 18/2017)

Medical Tribune: Müssen Ärzte Angst haben, dass Computer ihre Arbeit übernehmen?

Bart De Witte: Angst ist stets ein schlechter Ratgeber, man muss Herausforderungen annehmen und den Fortschritt positiv sehen. Aber in bestimmten Bereichen können Menschen einfach nicht mit Maschinen mithalten. Vieles lebt von Daten. Algorithmen stellen mitunter genauere Prognosen als Ärzte. Ein Mensch kann nun einmal nicht Millionen von Daten scannen und in kürzester Zeit miteinander vergleichen.

Sie spielen wohl auf Watson an, das berühmte Computerprogramm, das mit Künstlicher Intelligenz einst bei Quiz-Shows Aufsehen erregte?

Watson wurde so konzipiert, dass es die Interaktion zwischen Mensch und Maschine grundlegend vereinfacht und hilft, zusätzliche Erkenntnisse aus Daten zu gewinnen sowie bereits vorhandenes Wissen für Millionen von Menschen nutzbar zu machen. Die Arbeit mit Watson findet im Dialog statt: Der Mensch fragt, die Maschine antwortet. In natürlicher Sprache – das wird viele Bereiche revolutionieren.

Wie funktioniert das in der Medizin?

Watson hat Wissen digitalisiert. Die Anwendungen sind vielfältig. Ein auf der Watson-Plattform aufgebauter Roboter namens Nao kann beispielsweise als Avatar für Alzheimer-Patienten fungieren und diese daran erinnern, ihre Medikamente einzunehmen. Wir haben auch eine Partnerschaft mit dem Memorial-Sloan-Kettering Cancer Center in New York, einer renommierten Krebsklinik. Da wurden 2,5 Millionen historische Fälle digitalisiert, zudem fließen Guidelines und Expertenmeinungen ein, also nicht nur exakte Wissenschaft. Watson matcht all diese Daten und leitet daraus individuelle Prognosen und personalisierte Therapien ab. Wir erzielen dabei Genauigkeiten von über 95 Prozent!

Da kann in der Tat kein Mensch mithalten. So gesehen ist es doch verständlich, wenn nicht jeder in der Branche gleich euphorisch auf den Zug aufspringt?

Die Digitalisierung ist eine Chance und als solche muss man sie auch verstehen und wahrnehmen. Jeder Player, jede Klinik muss sich entscheiden: Entweder ich warte, bis jemand anderer all das Wissen digitalisiert hat, oder ich nutze die Chance und verwerte es selbst und generiere Wissen. Und es geht dabei nicht nur ums Geschäft, in erster Linie profitieren die Patienten. Es wird bessere Diagnosen geben. Und letztendlich hat die Digitalisierung auch eine soziale Komponente.

Inwiefern?

Die Daten und digitalen Services aus der New Yorker Krebsklinik werden weltweit, gerade auch in Entwicklungsländern angeboten. Watson wurde zuerst in Ländern wie Thailand oder Indien verkauft. Auch Afrika, wo die medizinische Versorgung unterentwickelt ist, kann durch solche Technologien eingebunden werden. Digitalisierung ist eine Chance, das Internet hat immer globalisiert und demokratisiert. Letztendlich wird der Preis für eine Diagnose durch Big Data sinken.

Zurück zum geschäftlichen Aspekt: Wie groß ist das Marktpotenzial weltweit?

Laut Studien wird der Digital Health-Markt bis 2025 etwa 200 bis 250 Milliarden US-Dollar schwer sein. Eine Klinik kann durch digitale Services zum globalen Anbieter von speziellen Produkten werden und man bleibt im Besitz der Daten.

Wieso ist gerade Europa dann so zögerlich und steht auch bei Investitionen auf der Bremse?

Europa hinkt bei der Digitalisierung in der Gesundheitsbranche in der Tat hinterher, es braucht dringend eine Investitionsoffensive, ähnlich wie das vor ein paar Jahren Barack Obama in den USA gemacht hat. Die IT-Budgets machen in Krankenhäusern in Deutschland oder Österreich gerade einmal 1,8 Prozent aus, eine Deutsche Bank kommt dagegen zum Beispiel bereits auf etwa acht Prozent. Es liegt sicher am Widerstand der Mediziner – Digitalisierung schafft Transparenz und setzt Mediziner unter Druck. Aber letztendlich hat man auch wieder mehr Zeit für die Patienten. In der Onkologie beispielsweise orten wir schon starkes Interesse der Ärzte.

Auch Hausärzte haben neue Möglichkeiten durch kontinuierliche Datensammlung über Wearables. Ich kann es nicht oft genug sagen: Man muss die Chancen sehen und auch nützen. Es gibt ein Window of Opportunity, das darf Europa nicht verpassen. Europa hinkt bei vielen Entwicklungen hinterher, etwa bei Social Media. Aber es kann auch anders. Denken Sie nur an die Mobiltelefonie – da war Europa einst führend mit Unternehmen wie Nokia oder auch Siemens.

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Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune