Ein Königreich für einen Exit-Plan

Sollten sich die Briten mit der EU auf keine neuen Verträge einigen, müssen auch viele Ärzte ihre Koffer packen und ihrerseits der Insel Goodbye sagen.

Should I stay or should I go? 30.000 europäische Ärzte sind derzeit in Großbritannien tätig, 324 davon kommen aus Österreich. Ihre berufliche Zukunft ist im Vorfeld der EU-Austrittsverhandlungen höchst ungewiss. (Medical Tribune 10/2017)

Sollten sich die Briten mit der EU auf keine neuen Verträge einigen, müssen auch viele Ärzte ihre Koffer packen und ihrerseits der Insel Goodbye sagen.
Sollten sich die Briten mit der EU auf keine neuen Verträge einigen, müssen auch viele Ärzte ihre Koffer packen und ihrerseits der Insel Goodbye sagen.

In Großbritannien wird dieser Tage Geschichte geschrieben. Premierministerin Theresa May wird den Brexit, den Austritt des Königreichs aus der EU, in die Wege leiten. Die Verhandlungen darüber sollen beginnen, sobald May das offizielle Trennungsgesuch einreicht. Abgeschlossen sein müssen sie innerhalb von zwei Jahren. Damit beginnt auch für tausende Ärzte eine Zeit der Unsicherheit – nämlich für jene, die aus EU-Ländern kommen und in England tätig sind.

Welche Auswirkungen der Brexit für sie haben wird, ist unklar. Ebenso die genaue Zahl der Betroffenen. Das General Medical Council (GMC), eine Organisation vergleichbar mit der Ärztekammer, erhebt zwar Daten, es gibt aber Ungenauigkeiten. Diese resultieren daraus, dass es keine regelmäßigen Updates gibt, vor allem aber keine Verpflichtung zur Angabe der Nationalität. Laut GMC sind derzeit 30.000 Ärzte aus dem europäischen Wirtschaftsraum in Großbritannien registriert – etwa elf Prozent aller rund 280.000 registrierten Ärzte im Königreich.

Hunderte Österreicher

Eine Recherche der MT hat in Bezug auf Österreich interessante Zahlen zutage gefördert. Anfang Februar waren 324 Ärztinnen und Ärzte mit österreichischen Zeugnissen beim GMC registriert. Das bestätigte das internationale Büro der Ärztekammer. Von diesen Ärzten haben aber nur 215 eine Arbeitserlaubnis für Großbritannien. „Das GMC hat aber darauf hingewiesen, dass nicht alle diese Ärzte notwendigerweise Österreicher sind. Die Staatsbürgerschaft wird nämlich nicht registriert, nur das Land, in welchem die Ausbildung abgeschlossen wurde“, erklärt eine Sprecherin der Ärztekammer.

Mangel an Pflegern

Aus Deutschland sind rund 1000 Ärzte vom Brexit betroffen. Und europaweit ein noch größeres Heer an Pflegern. An deren Verhalten zeigt sich, dass der Brexit schon jetzt enorme Auswirkungen hat: Infolge der zukunftsweisenden Abstimmung im Juni 2016 ist die Zahl der Krankenpfleger, die aus dem europäischen Ausland nach Großbritannien wechseln wollen, dramatisch zurückgegangen. Wie der Verband der Krankenschwestern und Hebammen mitteilte, habe es im Juli 2016 noch 1304 solcher Bewerbungen gegeben, im Dezember waren es nur noch 101. Dabei fehlen dem britischen Gesundheitssystem ohnehin 24.000 Krankenpfleger, wie die APA Ende Jänner berichtete.

Der Mangel an Fachkräften verschärft sich also. Die britische Gesundheitspolitik steht vor einer Herausforderung und muss eine Kehrtwende vollziehen. Denn 2013 erst hatte das Königreich eine Kampagne zur Anwerbung von Krankenpflegern lanciert. Die Zahl der Pfleger aus dem EU-Raum stieg daraufhin von rund 17.000 auf fast 39.000. Auch bei den Ärzten setzt das britische Gesundheitssystem stark auf ausländische Fachkräfte. Ein Viertel aller Ärzte in Großbritannien kommt derzeit aus dem Ausland (nicht nur EU). Das soll sich ändern: Bis 2025 soll das staatliche Gesundheitswesen keine Ärzte mehr aus dem Ausland benötigen, so der Plan der Regierung.

Derartige Aussagen des Gesundheitsministers verunsichern die Ärzte – verständlich, dass manch einer schon jetzt die Koffer packt. Noch besteht aber keine Eile. Während der Austrittsverhandlungen bleibt EU-Recht aufrecht. Das bestätigt auch das GMC: Noch („until further notice“) würde der Brexit keinen Einfluss auf Ärzte aus der EU haben. Britische Kliniken klagen allerdings bereits über einen Ärzte-Exodus. In einem offenen Brief an die Londoner „Times“ warnte die Federation of Specialist Hospitals (FSH), in der mehrere Krankenhäuser organisiert sind, vor den Folgen der politischen Kehrtwendung: Immer mehr hochqualifizierte Fachärzte würden den Nationalen Gesundheitsdienst National Health Service (NHS) verlassen.

In Fachbereichen wie der Kardiologie und der Neurologie würden bereits Versorgungslücken bestehen. Diese dürften bald größer werden und auf weitere Fachrichtungen übergreifen, so die Befürchtung in dem Alarmruf, der von führenden Mitarbeitern renommierter Häuser wie dem Papworth Hospital in Cambridge oder der Londoner Moorefields Augenklinik unterzeichnet wurde.

Signifikante Auswirkungen

Auch das GMC warnt: „Unser Gesundheitssystem profitiert erheblich vom Beitrag ausländischer Ärzte“, schreibt die Organisation in einem Positionspapier. Ein Austritt aus der EU könnte „signifikante Auswirkungen“ haben. Der Knackpunkt für die Zukunft sei, inwieweit man sich mit der EU auf einen weiterhin freien Zugang zum Arbeitsmarkt, zumindest in diesem Bereich, einigen könne.

Umgekehrt betreffe der Brexit übrigens vergleichsweise wenige britische Ärzte, die ihrerseits im EU-Ausland tätig sind. Großbritannien zählt zu den beliebtesten Märkten, in die es Ärzte innerhalb der EU hinzieht. Die Premierministerin will ohnehin so schnell wie möglich die Rechte von EU-Bürgern in Großbritannien und von Briten in der EU klären und in einem Abkommen festschreiben. Die EU wiederum scheint derzeit eine „harte Linie“ zu verfolgen – sie will nicht parallel zum Austritt einen neuen Handelsvertrag mit den Briten ausverhandeln.

 

Auch in England gilt: Weniger ist nicht mehr

Die Unternehmensberatung „Frost & Sullivan“ sieht für das britische Gesundheits­system NHS in einer Studie große Herausforderungen. Längere Wartezeiten und eine verzögerte Versorgung scheinen programmiert. Die Probleme sind schon ohne Brexit groß, vieles kommt einem hierzulande bekannt vor: Trotz steigender Gesundheitskosten sollen bis 2020 durch Effizienzsteigerungen 22 Milliarden Pfund eingespart werden. Ein zentraler Punkt dabei ist die Umstellung von der Versorgung im Krankenhaus (dafür werden derzeit 78 Prozent des NHS-Haushalts aufgewendet) hin zur Primärversorgung. Das würde aber durch einen Fachkräftemangel ausgebremst. Freilich könnte der Brexit auch Impulsgeber für Innovationen, neue Geschäftsmodelle und Technologien werden.

 

 

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune